Nach deutlichem Sieg der Labour-Partei

„Wir haben es geschafft“: Keir Starmer ist neuer britischer Premierminister

Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Keir Starmer, zeigt seinen Anhängern den Daumen nach oben.

Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Keir Starmer, zeigt seinen Anhängern den Daumen nach oben.

London. Keir Starmer ist neuer Premierminister des Vereinigten Königreichs. König Charles III. beauftragte den Sozialdemokraten mit der Regierungsbildung. Der 61-Jährige hatte mit seiner Labour-Partei bei der Parlamentswahl einen deutlichen Sieg errungen und die Konservative Partei abgelöst, die 14 Jahre lang in Großbritannien regierte.

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Starmer selbst wirkte erleichtert. „Wir haben es geschafft“, rief er seinen jubelnden Anhängern am frühen Freitagmorgen in London entgegen. Starmer versprach ein „Zeitalter der nationalen Erneuerung“, in dem Labour „mit dem Wiederaufbau unseres Landes beginnen“ werde, räumte aber auch ein, dass der Wandel nicht einfach sein werde. Eine veränderte Labour-Partei sei nun bereit, dem Land zu dienen, „bereit, Großbritannien wieder in den Dienst der arbeitenden Menschen zu stellen“.

Die Labour-Partei hat die Wahlen in Großbritannien am Donnerstag klar gewonnen. Kontrahent und Premierminister Rishi Sunak reichte nach der krachenden Niederlage direkt seinen Rücktritt als Parteichef der konservativen Tories ein. Starmer habe damit in gewisser Weise ein Wunder vollbracht, sagt Tim Bale von der Queen Mary University of London. Denn die meisten Experten hätten 2019 wohl gelacht, wenn man ihnen gesagt hätte, dass die Partei in fünf Jahren gewinnen könnte.

König Charles III. empfängt Sir Keir Starmer bei einer Audienz im Buckingham Palace, um ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

König Charles III. empfängt Sir Keir Starmer bei einer Audienz im Buckingham Palace, um ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

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Starmer machte deutlich, dass die Partei in die Mitte des politischen Spektrums gerückt sei, weg vom radikalen Sozialismus der Jahre von Jeremy Corbyn. „Das ist bedeutungsvoll für jene, die sich von den Konservativen abwenden“, so der Politologe. Und das taten Briten nun in Scharen.

Keir Starmer wirkt wie ein „politischer Roboter“ – und triumphiert dennoch

Starmer gehe auch in der Politik eher vor wie ein Anwalt vor, so sein Biograf Tom Baldwin. Er beginne mit kleinen, praktischen Manövern und arbeite sich vorwärts. „No-Drama-Starmer“ war der Spitzname, den die britischen Medien dem Sozialdemokraten schon im Wahlkampf verpasst hatten. Briten gähnten, wenn er zum millionsten Mal erzählte, sein Vater habe in seiner eigenen Fabrik gearbeitet. Die Erkenntnisse des Wahlkampfs ließen sich leicht zusammenfassen: Starmer träumt nicht, hat keine Phobien und keinen Lieblingsroman. Er wirke wie ein „politischer Roboter“, hat ihm ein Wähler ins Gesicht gefeuert. Dass er trotzdem triumphierte, sagt viel über die politische Lage auf der Insel aus.

Nach all den Dramen und dem Chaos der letzten Jahre unter den Tories wird Starmer geschätzt. Boring is good, langweilig ist gut. Viele sehen in seiner zurückhaltenden Art, seiner Weigerung, falsche Versprechungen zu machen, nach den aufreibenden Jahren unter der Tory-Partei ein Erfolgsrezept. „Die Menschen brauchen Hoffnung, aber es muss das sein, was ich eine normale Hoffnung nenne, eine realistische Hoffnung“, sagte Starmer kürzlich.

Seine Taktik ging auf. Der 61-Jährige ist der siebte Labour-Premierminister in der Geschichte des Landes. Es war ein Erdrutschsieg, der jenem von Tony Blair im Jahr 1997 fast gleichkam. Doch ansonsten hinkt der Vergleich mit dem früheren Labour-Premier. Mitte der 1990er-Jahre herrschte nach langen Jahren unter den Tories und einer zuletzt schwierigen Amtszeit für den konservativen Premier John Major im Königreich eine optimistische Aufbruchsstimmung. Unter Blairs Regierung kam es zu einer gesellschaftlichen Öffnung und Modernisierung, die Großbritannien international den Ruf „Cool Britannia“ einbrachte. Doch Starmer hat nun einen deutlich schwierigen Start, denn anders als damals sind die Staatskassen nun so gut wie leer und die Liste der zu bewältigenden Probleme lang. „Es gibt keine schnelle Reparatur für das, was die Tories zerstört haben“, sagte der Labour-Chef.

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Starmer will die Brexit-Debatte eher nicht neu eröffnen

Das Wahlprogramm der Partei liste die Herausforderungen im Gesundheitswesen, den Schulen und in der öffentlichen Verwaltung präzise auf, die Lösungen, die die Partei, anbiete, seien ihnen jedoch nicht gewachsen, urteilt die Denkfabrik Institute for Governance. Der Politologe Karl Pike von der Queen Mary University of London befürchtet, dass sich der Labour-Chef mit Zusagen zu den Dingen, die er nicht machen will, ein zu enges Korsett angelegt hat. Starmer war einst ein überzeugter Remainer, also gegen den Austritt aus der EU.

Seit er Vorsitzender der Labour-Partei ist, distanziert er sich und seine Partei von dieser Position. Er habe keine Ambitionen, die Debatte neu zu eröffnen oder dem EU-Binnenmarkt oder der Zollunion wieder beizutreten. Doch woher soll das versprochene Wachstum dann kommen? Auch die Einkommenssteuer, die Sozialabgaben und die Mehrwertsteuer sollen nicht erhöht werden. „Ich halte das angesichts der vielen Herausforderungen für gefährlich“, sagt Pike dieser Zeitung.

Erdrutschsieg für Labour-Partei bei britischer Parlamentswahl

Bei der Parlamentswahl in Großbritannien haben die Wähler und Wählerinnen klar für einen Regierungswechsel gestimmt.

Weggefährten beschreiben Starmer als gewissenhaft und detailversessen. „Ich glaube, er macht Politik genauso, wie er Recht macht“, sagte Ken Macdonald, Starmers Vorgänger als Generalstaatsanwalt. „Er sorgt nicht für ein Feuerwerk, aber er hat die meisten seiner Fälle gewonnen, weil er die Materie perfekt beherrscht.“ Besonders beliebt gemacht hat sich Starmer bislang jedoch nicht. YouGov-Umfragen zufolge hat nur knapp ein Viertel der Britinnen und Briten eine positive Meinung über ihn. Auch das ist historisch für einen neuen Premierminister. „Sicher wird er sich aber in Zukunft etwas entspannter präsentieren, nun, da der Wahlkampf vorbei ist und er so eine große Mehrheit hat“, sagt Sophie Stowers von der Denkfabrik UK in a Changing Europe gegenüber dieser Zeitung.

Starmers Weg in die von einer elitären Oberschicht geprägte britische Politik war keineswegs vorgezeichnet. Sein Vater war Werkzeugmacher, seine Mutter Krankenschwester. Sie litt an Morbus Still, einer seltenen Krankheit mit schweren rheumatischen Schüben. „Man sagte ihr oft, dass sie nie wieder gehen würde.“ Aber dann sei sie doch wieder gegangen, „immer und immer wieder“, erinnert er sich. Mit ihren Problemen habe sie sich nie aufgehalten. Starmer war das einzige von vier Kindern, das eine weiterführende Schule besuchte, die einen höheren Bildungsabschluss ermöglichte.

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Danach verließ er die südenglische Grafschaft Surrey, um in Leeds und Oxford Jura zu studieren. Anschließend arbeitete er als Menschenrechtsanwalt. Starmer sorgte in den 2000er-Jahren dafür, dass sich die Polizei in Nordirland an die Menschenrechtsgesetze hält. Einer seiner größten Erfolge war der sogenannte McLibel-Fall, ein Rechtsstreit zwischen der Fast-Food-Kette McDonalds und Umweltaktivisten, die dem Konzern Umweltzerstörung vorwarfen. McDonalds wurde weitgehend geschlagen, das Recht auf freie Meinungsäußerung gestärkt. Er war mit seiner Londoner Kanzlei zudem maßgeblich an der Abschaffung der Todesstrafe in Uganda beteiligt. Damit rettete das Team mehr als 400 Menschen das Leben, viele davon unter 18 Jahre alt.

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2008 wurde Starmer von der Labour-Regierung unter dem damaligen Premierminister Gordon Brown zum Generalstaatsanwalt ernannt und wechselte damit quasi die Seiten. Freunde betonen, dass er sich durch dieses Amt verändert, dem Establishment angenähert habe. Tatsächlich griff er ein seiner Rolle als Generalstaatsanwalt teilweise hart durch, etwa bei den gewalttätigen Unruhen in England im Jahr 2011, als Tausende selbst wegen geringfügiger Vergehen mit hohen Strafen rechnen mussten.

„Sir Keir“: Starmer wurde 2014 zum Ritter geschlagen

Für seine Verdienste als Generalstaatsanwalt in dem Amt wurde Starmer 2014 zum Ritter geschlagen und ist seitdem „Sir Keir“. Seine Eltern seien damals mit ihrem alten Volvo vor dem Buckingham-Palast vorgefahren, weil seine Mutter nicht mehr laufen konnte. „Sie waren sehr stolz“, erinnert sich der Oppositionsführer.

Auf die Frage, warum er in die Politik gegangen sei, antwortete er kürzlich: Er habe sein ganzes Leben lang versucht, Veränderungen zu bewirken, und sei irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass dies nur im Parlament und noch genauer in der Regierung möglich sei. 2014 gewann er einen Sitz im Parlament. 2016 wurde er zum Brexit-Beauftragten ernannt.

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Nachdem der als radikal links geltende Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn nach der krachenden Niederlage der Partei bei den Parlamentswahlen 2019 seinen Rücktritt angekündigt hatte, wurde Starmer im April 2020 zum neuen Vorsitzenden gewählt. Er wolle die Partei einen und umkrempeln, versprach er. Vor ihm lag eine Mammutaufgabe. Schließlich kämpfte Labour mit internen Spaltungen, eine langwierige Antisemitismusdebatte lähmte die Partei. Vor allem mit den linken Kräften ging der Politiker hart ins Gericht, was ihm auch Kritik aus den eigenen Reihen einbrachte.

Starmer gilt als ehrgeizig, auch wenn es um sein liebstes Hobby geht. Er spielt in seiner Freizeit Fußball und ist überdies ein leidenschaftlicher Fan. In Interviews spricht er entflammt davon, wie es sich anfühlt, im Londoner Emirates-Stadion zu sitzen. Die Gesänge, die Sprechchöre, wie sich die Menge erhebt, all die Menschen, die sich zu diesem großen gemeinsamen Erlebnis versammeln. Wenn beim Fußball ein Tor falle, sei das fantastisch, so Starmer.

Obwohl der 61-Jährige nicht mehr als Anwalt arbeitet, ist auch seine Begeisterung für Menschenrechte ungebrochen. Schon immer habe ihn fasziniert, so erzählt er gerne, dass die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenstand und sich fragte: „Wie können wir verhindern, dass so etwas noch einmal passiert?“ In ihrem Wahlprogramm versichert Labour, dass Großbritannien Mitglied der Europäischen Menschenrechtskommission bleiben wird.

Schweigsamer wird er, wenn es um seine Familie geht. Die Namen seiner 13-jährigen Tochter und seines 16-jährigen Sohnes nennt er nie. Seine Frau Victoria Starmer arbeitet für das staatliche Gesundheitssystem NHS, was ihm einen Blick hinter die Kulissen ermögliche. In der Öffentlichkeit tritt die Anwältin allerdings selten auf. Und das wird sich nach Ansicht des Labour-Chefs wohl auch in Zukunft nicht ändern. Als am Freitagmorgen klar wurde, dass er der neue Premierminister wird, war seine Frau jedoch dabei. Sie fielen sich in die Arme und küssten sich – ganz öffentlich.

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