Wie die Fußball-EM häusliche Gewalt begünstigt
Während großer Sportevents wie der Fußball‑EM werden mehr Frauen Opfer häuslicher Gewalt.
Quelle: iStock, Freepik, RND-Illustration Haensel
Berlin. Nach 120 Minuten steht am Freitagabend fest: Die deutsche Nationalmannschaft ist aus der Fußball-Europameisterschaft ausgeschieden. Kein Sommermärchen reloaded. Doch feiernde Fußballfans, stark besuchte Fanmeilen in den Städten und ausverkaufte Stadien prägten die letzten EM‑Wochen in Deutschland.
Während die einen feiern, bedeuten die Spiele anderswo Angst, Schläge und Gewaltausbrüche hinter verschlossener Tür. Denn während Sportevents wie der Fußball-Europameisterschaft steigt das Risiko für Frauen, Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Das zeigen mehrere internationale Studien.
In Nordengland werteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2013 drei vergangene Fußball-Weltmeisterschaften aus und konnten einen Anstieg von häuslicher Gewalt um 26 Prozent verzeichnen, wenn England gewann – und einen Anstieg um 38 Prozent, wenn das Team verlor. Auch in Kolumbien analysierten Forscher 2021 bei den Weltmeisterschaften 2014 und 2018 einen Anstieg partnerschaftlicher Gewalt um bis zu 39 Prozent im Vergleich zu Nichtspieltagen. Vor allem der Alkohol soll laut Londoner Forschern das Gewaltpotenzial während Fußballspielen beeinflussen – und vor allem seien es Männer, die gewalttätig werden.
Berliner Polizei verzeichnet steigende Zahlen während der EM
Und auch bei der Polizei Berlin stiegen die angezeigten Fälle von partnerschaftlicher oder familiärer Gewalt, seit die EM begonnen hat. In den drei Wochen vor Beginn der EM lag die Zahl bei 869, wie die Polizei auf RND-Anfrage mitteilte. Seit dem Eröffnungsspiel am 14. Juni bis zum 3. Juli wurden dagegen 924 Fälle angezeigt. Während es in den Jahren 2023 und 2022 in dem Zeitraum keine derartigen Schwankungen nach oben gegeben hat, zeigte sich für das EM‑Jahr 2021 ebenfalls ein Anstieg der Fälle während des Turniers. Sie stiegen von 834 auf 920.
Düsseldorf bereitete sich auf die Spiele vor - und auf häusliche Gewalt
In Düsseldorf hat man sich wegen der Studien vorbereitet. Finanziert durch die Stadt bietet die dortige Frauenberatungsstelle Notfallsprechstunden an allen Tagen nach den Spielen an, hat Telefonzeiten in den Abendstunden eingerichtet und die freiwilligen Helferinnen und Helfer der Uefa für das Fußballturnier zu möglichen Übergriffen geschult.
Doch bisher sei dieses spezielle Angebot der Beratung nicht genutzt worden, erklärt Fachberaterin Etta Hallenga. „Wir verzeichnen aber seit Kurzem mehr Anfragen, die uns über die Polizei oder in den regulären Beratungen erreichen.“ Ob das aber mit der Fußball‑EM zusammenhänge, könne der Verein nicht sagen, dafür sei es zu früh.
Frauen melden sich oft erst Wochen später
Wer als Frau Opfer von Gewalt wurde, kann auch beim Hilfetelefon Unterstützung bekommen. Wurden dort bereits mehr Fälle verzeichnet? Viermal tutet es, dann meldet sich eine freundliche Frauenstimme: „Das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen?“ Seit Beginn der EM haben die Beraterinnen jedoch noch keine Zunahme von Anrufen festgestellt.
Ist also vielleicht alles gar nicht so schlimm, wie von den Studien beschrieben? Hat sich in den letzten Jahren die Situation gar verbessert?
Keinesfalls. Dass in Düsseldorf bislang niemand auf die Soforthilfe angesprungen ist, sei nicht weiter ungewöhnlich, erklärt Fachberaterin Hallenga. „Wir bieten die Notfallsprechstunden auch zum Weihnachtsmarkt oder der Kirmes an. Oft melden sich die Frauen aber erst ein bis vier Wochen nach dem Übergriff, der erst verarbeitet werden muss.“ Sie vergleicht das Angebot mit der Feuerwehr – gut, dass sie bereitsteht und noch besser, wenn sie nicht zum Einsatz kommen muss.
Oft hängen Frauen jahrelang in Gewaltspiralen fest, bevor sie zum Hörer greifen. Auch beim Hilfetelefon weisen die Mitarbeitenden darauf hin, dass von Gewalt betroffene Frauen sich sehr häufig zeitversetzt melden.
Alkohol, Emotionen und Gruppen erleichtern Konflikte
Dass durchaus ein Zusammenhang zwischen häuslicher Gewalt und der Fußball‑EM bestehen kann und die Angebote definitiv notwendig sind, meint auch Sylvia Haller, Mitglied im Vorstand des Deutschen Frauenrates. „Dort, wo viele Menschen – in diesem Fall Männer – aufeinandertreffen, Alkohol fließt und Frust oder Freude hinzukommen, steigt das Konfliktpotenzial.“
Seit Beginn des Turniers häufen sich auch die Berichte von Schlägereien und sexuellen Belästigungen nach Fußballspielen, auf Fanmeilen, in Innenstädten. Laut sein, sich breitmachen und harte Männlichkeit demonstrieren – Dinge, die bei Spielen der Nationalmannschaft sehr ausgelebt würden, erklärt Haller. Die EM an sich mache niemanden zum Gewalttäter. Vielmehr gehe es darum, was die Männer in ihrer Kindheit erfahren hätten. „Hat der Mann gelernt, seine Emotionen zu kontrollieren? Dann wird ihn weder der Fußball noch der Alkohol gewalttätig gegenüber Frauen machen.“ Andersrum sei es genauso: Wenn der Täter nicht wisse, wie er seine Gefühle reguliere und zu Gewalt neige, könnten alle möglichen Situationen einen Ausbruch hervorrufen.
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Diese Unfähigkeit stammt laut Haller aus der Sozialisation. „Kleine Kinder weinen alle gleich viel. Doch den Jungen wird das oft abtrainiert.“ Durch eine konservative Erziehung, bei der Gefühle unterdrückt und das Rollenbild eines starken Ernährers vermittelt würden, entstehe die Basis für unkontrollierte Gefühlsausbrüche – bis hin zur Gewalt.
Zahlen häuslicher Gewalt gestiegen – neues Gesetz soll Schutz garantieren
Dass Maßnahmen wie in Düsseldorf und anderswo nicht übertrieben sind, zeigen die erst kürzlich von Frauen- und Familienministerin Lisa Paus (Grüne) und Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vorgestellten Zahlen zu häuslicher Gewalt: Sie haben wieder einmal zugenommen. Die von 2022 auf 2023 erneut um 6,5 Prozent gestiegenen Fälle zeigten das „erschreckende Ausmaß einer traurigen Realität“, sagte Paus. Die Gewalt als „alltägliches Phänomen“ sei nicht hinnehmbar. Doch Haller bewertet die Zahlen nicht nur als negativ: „Endlich kommt Licht in das große Dunkelfeld.“
Bereits im Vorfeld des aktuellen Turniers warnte das UN Women Komitee Deutschland vor steigender Partnerschaftsgewalt und forderte politische Maßnahmen wie die Verabschiedung des geplanten Gewalthilfegesetzes. Dieses stammt aus dem Haus der Bundesfrauenministerin Lisa Paus (Grüne) und soll Betroffenen einen Rechtsanspruch auf Schutz und Beratung garantieren – vom Deutschen Frauenrat ausdrücklich begrüßt. Doch noch ist das Gesetz in Arbeit.
Sind Sie von Gewalt betroffen? Hier bekommen Sie Hilfe:
- Bei akuter Gefahr rufen Sie immer die Polizei unter der Notrufnummer 110!
- Auf der Internetseite des BFF finden Sie Beratungsstellen in Ihrer Nähe.
- Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016 (anonym, kostenfrei, barrierefrei und in 18 Fremdsprachen verfügbar)
- Beratungsstelle für Täter häuslicher Gewalt: www.bag-taeterarbeit.de
- Opfertelefon des Weißen Rings: 116 006 (bundesweit, kostenfrei, täglich von 7 bis 22 Uhr)
- Hilfetelefon „Gewalt an Männern“: 0800 1239900 (anonym, Mo. bis Do. von 8 bis 20 Uhr, Fr. von 8 bis 15 Uhr)