Rätseln um die Motive des Kremls

Drohkulisse oder „Kuba-Krise 2.0″? Was Putins Kriegsschiffe in der Karibik vorhaben könnten

Menschen beobachten am Mittwoch, 12. Juni 2024, die Ankunft einer Fregatte der russischen Marine im Hafen von Havanna.

Menschen beobachten am Mittwoch, 12. Juni 2024, die Ankunft einer Fregatte der russischen Marine im Hafen von Havanna.

Hamburg/Moskau. Es ist nicht das erste Mal, dass Russlands Angriff auf die Ukraine und die daraus folgenden Erschütterungen der internationalen Politik an einige der düstersten Phasen des Kalten Krieges erinnern. Diesmal jedoch schwingen Ängste vor einer potenziell besonders gefährlichen Zuspitzung mit: Die Ankunft mehrerer russischer Marineschiffe inklusive eines Atom-U-Bootes in der Karibik – weniger als 200 Kilometer von der Südspitze des US-Bundesstaates Florida entfernt – ist ein Schachzug des Kremls, mit dem kaum jemand gerechnet haben dürfte.

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Am Mittwoch trafen die ersten Mitglieder der russischen Kriegsflotte in der Bucht von Havanna ein. Während Gastgeber Kuba von einem schon länger geplanten Besuch im Rahmen der „historischen Freundschaft“ mit Russland spricht und auch die US-Regierung bisher offiziell keine Gefahr sieht, ist eines dennoch klar: Es handelt sich um eine Militärübung im unmittelbaren geografischen Umfeld der Vereinigten Staaten – die erste der russischen Armee mit Luft- und Seekomponenten in der westlichen Hälfte der Erdkugel seit gut fünf Jahren.

Das russische Atom-U-Boot „Kasan“ beim Einlauf in den Hafen der kubanischen Hauptstadt Havanna.

Das russische Atom-U-Boot „Kasan“ beim Einlauf in den Hafen der kubanischen Hauptstadt Havanna.

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Worin besteht das Kalkül des Kremls?

Und das nur wenige Tage, nachdem Wladimir Putin den Westen reichlich kryptisch, aber mit unverblümt drohendem Unterton auf eine „asymmetrische Antwort“ zu dessen Waffenlieferungen an die Ukraine einstimmte. Manch einer mag die geschichtliche Symbolik der Aktion gar als Parallele zur Kuba-Krise sehen, die Anfang der 1960er-Jahre die Welt im damaligen Ost-West-Konflikt so nahe an den Rand eines globalen Atomkriegs brachte wie nie zuvor und nie danach.

Was bezweckt der Kreml mit der Entsendung der Schiffe? Ein hochrangiger US-Vertreter betonte nach Informationen der Nachrichtenagentur AP unter Verweis auf Geheimdiensterkenntnisse, dass keines von ihnen Nuklearwaffen an Bord habe. Eine direkte Bedrohung der Vereinigten Staaten oder anderer Länder liege derzeit nicht vor. In der Tat ist Russland ein langjähriger Verbündeter Kubas, im karibischen Raum wurden seine Marineschiffe und Flugzeuge bereits häufiger gesichtet. Ihre Wirtschaftsbeziehungen wollen beide Staaten noch ausbauen – Russland ist seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs durch Sanktionen wirtschaftlich relativ stark isoliert.

Der gewählte Zeitpunkt lässt nun aber Zweifel aufkommen, ob es sich bei der Stippvisite der Fregatte „Admiral Gorschkow“ und ihrer Begleitschiffe wirklich lediglich um den angeblichen „Hafenbesuch“ dreht. Denn erst kürzlich erlaubte US-Präsident Joe Biden der Ukraine, mit von den USA bereitgestellten Waffen zur Verteidigung der Großstadt Charkiw auch Ziele in Russland zu attackieren. Nach langem Zögern gab daraufhin die Bundesregierung ebenfalls den Weg dafür frei – auch wenn Kanzler Olaf Scholz (SPD) den von Kiew besonders ersehnten Marschflugkörper Taurus weiterhin nicht liefern will. Putins Reaktion: die Ankündigung möglicher „asymmetrischer“ Maßnahmen Russlands in anderen Teilen der Welt – wozu auch russische Waffenlieferungen in ferne Regionen gehören könnten. „Wir werden sehen, wie sich das Ganze in den nächsten Tagen entwickelt“, sagte der Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan.

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Zwischen Großmachtansprüchen und Drohgebärden

Fachleute beurteilen das Handeln Russlands mit gemischten Gefühlen. Einerseits könne es schlicht um eine Demonstration der eigenen militärischen und weltpolitischen Bedeutung gehen, vermutet Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH): „Die Russische Föderation sieht sich selbst als Großmacht, die entsprechende globale Projektionsfähigkeiten hat. Und zu diesen Fähigkeiten gehört, dass die eigene Flotte in der Lage sein muss, alle Ecken und Enden der Welt zu erreichen.“ Zumal Russland mit dem globalen Netz permanenter militärischer Stützpunkte der USA kaum mithalten kann.

ARCHIV - 09.09.2016, Russland, Kubinka: Eine «Iskander-M»-Rakete wird während einer Demonstration des Internationalen Militärtechnischen Forums «ARMY-2016» im «Patriot»-Park der russischen Streitkräfte auf den Abschuss vorbereitet. Russlands Präsident Putin hat die Stationierung taktischer Atomwaffen in der ehemaligen Sowjetrepublik Belarus angekündigt. Darauf hätten sich Moskau und Minsk geeinigt, sagte Putin am Samstagabend im Staatsfernsehen. Russland verstoße damit nicht gegen internationale Verträge. Foto: picture alliance / dpa +++ dpa-Bildfunk +++

„Asymmetrische Antwort“ bei Einsatz westlicher Waffen: Was meint Putin mit seiner Drohung?

Die Befürchtung, Russland könnte sich durch weitere Waffen für die Ukraine zu Militärschlägen gegen deren westliche Unterstützer provoziert fühlen, äußern Kritiker der Lieferungen seit Langem. Eine Aussage von Präsident Putin lässt jetzt aufhorchen – wirft allerdings auch neue Fragen auf.

Der Rüstungskontrollexperte verweist zudem auf die spezielle Rolle Kubas und Venezuelas inmitten der zunehmenden Isolation Moskaus. „Russland verfügt derzeit in der Welt nicht über viele gute Freunde“, erklärt Kühn. „In Lateinamerika hingegen gibt es zwei Länder, die gleichzeitig den USA historisch sehr kritisch gegenüberstehen: eben Kuba und Venezuela. So gesehen hat sich der Kreml nun wahrscheinlich gefragt: ‚Wo sonst sollen wir schon hinfahren mit unseren Schiffen?‘“

Russland rüstet sich für jahrzehntelange Kriegswirtschaft

Auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg präsentiert Kremlchef Putin Russland trotz beispielloser Sanktionen als starke Nation. Vor allem setzt er auf eine florierende Rüstungsproduktion.

Putin will eine Botschaft senden

Es könnte bei alldem allerdings noch eine ganz andere Seite geben – und die würde zumindest auf eine bewusste strategische Provokation an die Adresse der USA deuten. „Im Lichte der jüngsten Einlassungen Putins kann man schon annehmen, dass er dem Westen die Botschaft vermitteln will: ‚Ich gebe euch jetzt mal was von eurer eigenen Medizin zu kosten‘“, schätzt Kühn. „Nach dem Motto: Wenn die USA und andere Unterstützer der Ukraine Kiew erlauben, mit ihren Waffen auch russisches Gebiet zu treffen – warum sollte Russland dann nicht zumindest ähnliche Schritte unternehmen dürfen?“

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Im Lichte der jüngsten Einlassungen Putins kann man schon annehmen, dass er dem Westen die Botschaft vermitteln will: „Ich gebe euch jetzt mal was von eurer eigenen Medizin zu kosten.“

Ulrich Kühn,

Rüstungskontrollexperte, über das mutmaßliche Motiv des russischen Präsidenten im Fall von Waffenstationierungen in anderen Ländern

Mit „ähnlich“ meint der Analyst der internationalen Sicherheitspolitik einen möglichen Bezug zu Putins Geraune um eine „asymmetrische“ – also ungleichmäßige – Antwort auf die Politik der Nato-Partner gegenüber der Ukraine. „Eine symmetrische Antwort wäre es ja, wenn Putin nun seinerseits einem Land wie Kuba Raketen zur Verfügung stellen würde, das damit etwa US-Territorium beschießen könnte“, erklärt er. „Aber weder Kuba noch Venezuela können ein Interesse daran haben, einen Krieg mit den USA anzufangen. Insofern könnte die ‚asymmetrische Antwort‘ eventuell darin bestehen: Man gibt Waffen, aber tut sonst erst einmal nichts.“

Ulrich Kühn, Wissenschaftler am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

Ulrich Kühn, Wissenschaftler am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg (IFSH).

Also alles halb so wild – denn schließlich werden auch militärische Drohungen nie so heiß gegessen wie gekocht? Obwohl der Experte zur Besonnenheit und nüchternen Betrachtung mahnt, weist er doch auf mögliche Risiken hin – die jedoch in diesem Fall wohl deutlich unterhalb der Schwelle eines direkten militärischen Schlagabtauschs zwischen Moskau und Washington liegen dürften.

„Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass Russland den Kubanern oder Venezolanern bestimmte konventionelle Mittelstreckensysteme an die Hand gibt oder – das wäre wahrscheinlicher – diese dort unter eigener Kontrolle stationiert“, sagt Kühn. „So könnte es nach der Freigabe von US-Waffen zum Beschuss russischer Gebiete an die Ukraine eine Drohkulisse gegenüber den Vereinigten Staaten aufbauen und ihnen signalisieren: ‚Schaut her, jetzt könnt ihr mal sehen, wie sich das anfühlt.‘“ Theoretisch könnten einige Mittelstreckenraketen nach seiner Einschätzung sowohl von Kuba als auch von Venezuela aus Florida erreichen, möglicherweise sogar bis nach Washington kommen. „Eine solche Motivlage auf russischer Seite möchte ich nicht ausschließen.“

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„Natürlich im Bereich der Spekulation“

Gleichzeitig unterstreicht Kühn: „Es muss klar sein, dass wir uns hier natürlich im Bereich der Spekulation bewegen.“ Vielleicht ergebe sich das russische Manöver in der Karibik auch bloß aus einem reinen zeitlichen Zufall. „In der Regel dauert es schon relativ lange, eine solche große Militärübung vorzubereiten, bis zu einem halben Jahr“, erläutert der Hamburger Wissenschaftler. „Und das wäre weit vor der aktuellen Zuspitzung im Ukraine-Krieg.“ Er warnt überdies davor, allzu rasche Analogien zur existenzbedrohenden Kuba-Krise der frühen 1960er-Jahre zu ziehen, nur weil sich die Geschehnisse gerade in derselben Region abspielen.

Vielleicht sind derlei historisch-symbolische Assoziationen aber eben genau das, was Putin im Hinterkopf hat. In den internationalen Beziehungen geht es immer auch um den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung – und um die (Um-)Interpretation vergangener Konflikte, teils zum eigenen Vorteil. In ihrer heißen Phase konnte die Kuba-Krise im Herbst 1962 aus Sicht etlicher Historiker und Politologen nur deshalb so sehr hochkochen, weil die politischen Führungen und die Militärbürokratien beider Seiten – der USA wie der früheren Sowjetunion – ihre wechselseitigen Motive zu Beginn des Konflikts vollkommen unterschiedlich einschätzten.

Das Archivbild von 1962 zeigt den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow während einer Fernsehansprache in Moskau.

Das Archivbild von 1962 zeigt den sowjetischen Parteichef Nikita Chruschtschow während einer Fernsehansprache in Moskau.

Die Sowjetunion, die zuvor erfolglos am Viermächtestatus Berlins gerüttelt hatte, begann damals heimlich mit der Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen auf Kuba. Daraufhin zogen die USA eine Bannmeile um die Karibikinsel. Hardliner auf beiden Seiten drängten zum Einsatz von Atomwaffen. Doch US-Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Partei- und Staatschef Nikita Chruschtschow einigten sich in letzter Minute friedlich – und zogen ihre Raketen ab. Den „Sieg“ freilich beanspruchte jeder für sich selbst.

US-Präsident Joe Biden hatte zu Beginn des Ukraine-Krieges in der Tat die Besorgnis geäußert, dass die Drohungen aus dem Kreml die Gefahr eines nuklearen Konflikts so stark wie nie mehr seit 1962 heraufbeschwören könnten: „Mit der Aussicht auf ein Armageddon sind wir seit Kennedy und der Kuba-Krise nicht mehr konfrontiert gewesen.“

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Kühn mahnt hier allerdings zur Vorsicht. „1962 war die Situation rund um Kuba eine ganz andere“, sagt er. „Das Castro-Regime musste nach dem gescheiterten Invasionsversuch der Amerikaner in der Schweinebucht konkret befürchten, von den USA gewaltsam entfernt zu werden. Die kubanische Führung hatte damals also ein maximales Interesse, sich zu schützen – auch durch die Stationierung sowjetischer Nuklearwaffen.“ Die heutige Lage sei damit nicht einmal ansatzweise vergleichbar. „Und wir haben auch keinesfalls einen Putin, der so verzweifelt wäre, dass er im Vorhof der USA Nuklearwaffen stationieren müsste – im Gegenteil, er hat momentan ja eher Oberwasser.“ Der Kreml wolle wahrscheinlich vor allem mehr Aufmerksamkeit erreichen „und Washington klarmachen: Auch Russland ist eine globale Großmacht, die mit den USA auf Augenhöhe ist.“

Mit Material von AP und dpa

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