Neues Sachbuch: „Ungleich vereint“

Dumm und undankbar? Autor Steffen Mau über den Osten, die AfD und politische Schnäppchenjäger

Übermächtig? Wahlplakate in Dresden Anfang Juni.

Übermächtig? Wahlplakate in Dresden Anfang Juni.

Leipzig. Hinterher sind alle dümmer. Vor einer Woche haben sich die am Wahlabend befragten Parteienvertreter das Ergebnis klein-, groß- oder schöngeredet. Rasch landeten die Wählerinnen und Wähler im Osten, wo die AfD stärkste Kraft wurde, in der dummen Ecke, undankbar und für die Demokratie verloren seien sie. Wählerbeschimpfung bewegt nichts. Darum erklärt der Soziologe Steffen Mau in seinem neuen Buch „Ungleich vereint“, warum der Osten anders bleibt – und anders wählt.

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Zwar werde die „politische Einheitlichkeitsfiktion“ bis heute propagiert, „sie verstellt aber den Blick auf sich festsetzende Unterschiede“. Es wird verstärkt, was geglaubt werden will und ausgeblendet, was gewohnte Urteile stört. Mau illustriert das am Beispiel von zwei Romanen aus dem vergangenen Jahr. Die in Wismar geborene Anne Rabe war mit „Die Möglichkeit von Glück“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Das Buch über die „Verschmelzung staatlicher und familiärer Gewalt“ könne als „Abrechnung mit einer autoritären Erziehungsdiktatur gelesen werden“.

„Zivilgesellschaftliche Formschwäche“ des Ostens

Deutlich weniger Resonanz habe das genauso interessante Buch „Simone“ der Berlinerin Anja Reich gefunden, „das ebenfalls um DDR-typische Themen wir Kindheitstrauma und Wochenkrippe kreist“. Jedoch „im Urteil weniger sicher auftritt, letztlich suchender und abwägender ist und damit ein bestimmtes – vereindeutigtes – Bild des Ostens verweigert“. „Rückkehr nach Ostdeutschland“ nennt Mau die Literatur der Nachwendegeneration frei nach Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“.

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Der Soziologe und Publizist Steffen Mau.

Der Soziologe und Publizist Steffen Mau.

Erfahrungen sozialer Spaltung und Deklassierung thematisierte der aus Rostock stammende Autor bereits in seinem Bestseller „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“, zuletzt war er Mitautor der Analyse „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“. Einen Diskussions- und Klärungsbedarf sieht er weiterhin, nicht zuletzt wegen des Vordringens „totalitärer und autoritärer politischer Phantasmen“. Sein Buch erscheint eine Woche nach der Europawahl, in deren Ergebnisgrafiken sich die Umrisse der DDR abzeichnen: einheitlich in AfD-Blau. Woher kommt das? Zum einen seien im Osten noch stärker als im Westen „die Wählerinnen und Wähler keine Stammkunden mehr, sondern allenfalls Schnäppchenjäger, die bei jeder günstigen Gelegenheit woanders fündig werden“.

Während die Politisierung insgesamt zunehme, schwinde andererseits die Bedeutung institutioneller Formen kollektiver Interessenvertretung. Mau bescheinigt dem Osten eine „zivilgesellschaftliche Formschwäche“, einen Mangel an Kanälen der Beteiligung. Immer weniger Menschen engagierten sich hier in Parteien und Gewerkschaften. In den Betrieben seien die Möglichkeiten der Mitbestimmung beschränkter. Vereine und Kirchen prägen weniger stark den Alltag. Es gebe wesentlich weniger Stiftungen, die in Bildung, Kultur oder Wissenschaft aktiv sind.

Die AfD kam durch das „Einstiegsfenster“ Lokalpolitik

Gefeiert wird die Einheit trotzdem – einmal im Jahr. Man könne, schreibt Mau, „den Übergang von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit als ausgebremste Demokratisierung“ interpretieren. Basisdemokratische Experimente oder „neue (unkonventionelle) Formen der Partizipation wie etwa die runden Tische“ seien von bundesdeutschen Parteien und dem dortigen politisch-administrativen System zurückgedrängt worden. „Die Angst vor Eigen- und Sonderstrukturen oder vor möglichen Rückwirkungen auf die Bundesrepublik-West war erheblich.“ So ist der Osten weniger eine „westdeutsche Erfindung“ (Dirk Oschmann) als ein Produkt des Westens. Im daraus resultierenden „Gefühl der Verohnmächtigung“ werden über 30 Jahre Demokratieerfahrungen nur schwach als solche wahrgenommen, wenn sie ohne eigene Beteiligungsmöglichkeit vorüberziehen, sich „kein gelebtes Repertoire der demokratischen Beteiligung“ ausbilden kann.

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So folgte auf Selbstermächtigung eine Selbstentmachtung, fehlt bis heute ein emanzipatorisches Projekt mit eigenen Begriffen, Bewusstseinsformen und politischen Zielen. Die AfD „geht in die Lücke“, nutzt das „Einstiegsfenster“ Lokalpolitik und „macht sich zum Sprachrohr der ,ostdeutschen Seele’“, schreibt Mau. „Die AfD hat in Sachen ostdeutscher Identitätspolitik der PDS bzw. der Linken inzwischen den Rang abgelaufen.“ Er beschreibt, wie ein AfD-Funktionär aus Baden-Württemberg einen Protestzug in der Berliner Friedrichstraße mit dem Schlachtruf „Ost-, Ost-, Ostdeutschland“ anführt, was eventuell einer wachsenden „Sehnsucht nach Stabilität und Zugehörigkeit“ entgegenkommt, kaum jedoch einer „mentalen Beheimatung“, denn es ist ja nur der Slogan gewordene Rettergestus sogenannter „Transfereliten“. Nicht dass Westfunktionäre am Ende noch die Mauer zu Fall gebracht haben wollen.

Wurzeln der Entwicklung sieht Steffen Mau in den 90ern

Ein Bauwerk, das weiter stabil steht, ist die „Vermögensmauer“. Selbstverständlich müssen in diesem Buch erneut jene (zu) oft gehörte Wahrheiten Erwähnung finden: von Verlusterfahrungen über strukturelle Ungleichheit bis zur öffentlichen Tabuisierung positiver Deutungen der DDR. Das nicht mehr hören zu wollen, ändert nichts daran, dass „Unterschiede in den Deutungskulturen durch aktuelle Geschehnisse aktiviert und verstärkt werden“ und einem „Zusammengehörigkeitsglauben“ entgegenstehen.

Mit der Ungleichheit habe sich die deutsch-deutsche Gesellschaft abgefunden, schreibt Steffen Mau. Auf dem Feld der Politik allerdings zwinge sich das Thema „angesichts des Aufstiegs rechtspopulistischer und rechtsextremer Kräfte von selbst auf“. Die Wurzeln dieser Entwicklung sieht der Autor in den 90er-Jahren, „als es rechten Akteuren gelang, im Osten lokale Strukturen aufzubauen“, was, fügt er hinzu, „ohne eine schon in der DDR vorhandene rechtsextreme Szene kaum denkbar gewesen wäre“.

Um die politische Kultur in Ostdeutschland zu verstehen, müsse der „Veränderungsmüdigkeit“ Beachtung geschenkt werden. Letztere trifft – nach dem „Turbowandel der 1990er“ – auf eine Gegenwart weiterer Brüche und Anpassungsherausforderungen. Das reicht von Technologien bis zur Debattenkultur, von der Ohnmachtserfahrung Pandemie bis zur näherrückenden Bedrohung durch Kriege. In dieser Situation eines als umfassend empfundenen Kontrollverlustes sieht Steffen Mau drei Dinge, die extreme Positionen salonfähig gemacht haben: „die Anspitzung des Diskurses, das Vordringen eines radikalisierten Vokabulars und die Bedienung bestimmter Triggerpunkte durch die AfD (aber auch andere politische Akteure)“.

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Weil ein „Weiter so“ riskant sei, schlägt er für Ostdeutschland eine „Einrichtung und Stärkung von Bürgerräten“ vor für eine „dringend erforderliche Belebung der politischen Kultur“.

Info: Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt. edition suhrkamp; 168 Seiten, 18 Euro

Dieser Artikel erschien erstmals bei der Leipziger Volkszeitung (LVZ).

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