Offizielle Wachstumsrate von 5,2 Prozent

Warum der EU-Botschafter in Peking die chinesischen Wachstumszahlen infrage stellt

Jorge Toledo, Botschafter der EU, neben Deng Li, Chinas chinesischem Vizeaußenminister.

Jorge Toledo, Botschafter der EU, neben Deng Li, Chinas chinesischem Vizeaußenminister.

Peking. Wenn es um den Zustand der chinesischen Wirtschaft geht, klaffen die Wahrnehmungen teils eklatant auseinander. Erst am Dienstag trat Premierminister Li Qiang beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor die globale Finanzelite und versuchte mit demonstrativem Selbstbewusstsein, um die Gunst der Investoren zu werben. Das chinesische Bruttoinlandsprodukt sei im letzten Jahr um 5,2 Prozent gewachsen, teilte der 64-Jährige stolz mit. Chinas Markt sei „kein Risiko, sondern eine Chance“.

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Nur wenige Stunden später, 10.000 Kilometer östlich, zeichnet Europas Botschafter in Peking ein geradezu konträres Bild. Pekings „Besessenheit mit nationaler Sicherheit“ würde die wirtschaftliche Erholung überschatten, sagte Jorge Toledo in geradezu undiplomatisch direkten Worten bei einer Onlineveranstaltung der Berliner Denkfabrik Merics: „Wir alle dachten, dass nach vier Jahren schwacher wirtschaftlicher Aktivität ein starker Aufschwung eintreten würde. Nun, das ist nicht geschehen.“

Davos: Klaus Schwab (r), Gründer des Weltwirtschaftsforums WEF, spricht mit Li Qiang, Premierminister der Volksrepublik China, auf der Bühne während der Eröffnungsveranstaltung

Davos: Klaus Schwab (r), Gründer des Weltwirtschaftsforums WEF, spricht mit Li Qiang, Premierminister der Volksrepublik China, auf der Bühne während der Eröffnungsveranstaltung

Sind offizielle Statistiken künstlich aufgebläht?

Und dann sagte der Spanier etwas ganz und gar Bemerkenswertes: Er stellte die Glaubwürdigkeit der chinesischen Regierungszahlen infrage. „Premier Li Qiang hat in Davos gesagt, die chinesische Wirtschaft sei um 5,2 Prozent gewachsen. Einige Analysten glauben das nicht. Andere Analysten – die meisten von ihnen – wissen nicht, wie eine Wirtschaft, die zu einem Viertel vom Immobiliensektor abhängt (…) um 5,2 Prozent gewachsen sein könnte“, sagt Toledo unverhohlen. Denn nicht nur sei der Wohnungsmarkt eingebrochen, auch der Binnenkonsum habe sich nicht wie erhofft entwickelt.

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Und mit seiner Einschätzung steht der Botschafter nicht allein da. Das renommierte Analysehaus Rhodium glaubt ebenfalls, dass Chinas offizielle Statistiken künstlich aufgebläht seien. Laut einer alternativen Zählweise käme man lediglich auf ein Wachstum im Vorjahr von 1,5 Prozent, hieß es in einer Publikation vor wenigen Wochen.

Fakt ist: Es wird immer schwieriger, sich angesichts der zunehmenden Intransparenz ein akkurates Bild über den Zustand der chinesischen Wirtschaft zu machen. Im Sommer etwa hat die Statistikbehörde sämtliche Daten zur urbanen Jugendarbeitslosigkeit kurzerhand einbehalten, nachdem diese auf einen historischen Rekordwert von über 21 Prozent geschnellt war. Nun, fast ein halbes Jahr später, haben die Behörden die Statistik nach einer „Optimierung“ der Zählweise wieder veröffentlicht – und sind mit 14,9 Prozent auf einen erstaunlich niedrigen Wert gekommen.

Selbst der Ex-Premier traute den Zahlen nicht

Die Reaktion der chinesischen Internetgemeinde war an Zynismus kaum zu überbieten. „Das Problem an der Wurzel anpacken!“, schreibt ein User voller Hohn. Ein anderer meint: „Ein guter Weg zur Erhöhung der Beschäftigungsquote“.

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Dass die Wirtschaftszahlen mit einer Portion Skepsis betrachtet werden sollen, sehen nicht nur internationale Beobachter. Der letztes Jahr verstorbene Ex-Premier Li Keqiang soll laut einem Diplomatenkabel 2007 dem US-Botschafter gesagt haben, dass er den BiP-Zahlen der Provinzregierung ebenfalls nicht über den Weg trauen würde. Stattdessen schaue er vor allem auf handfeste Indikatoren wie das Frachtaufkommen der Eisenbahn, die von Banken ausgezahlten Kredite oder den Stromverbrauch.

Doch zumindest letzterer Wert wurde nachweislich während der Pandemie ebenfalls von einigen Staatsunternehmen manipuliert: Um nämlich eine rasche Corona-Erholung vorzutäuschen, ließen etliche Betriebe im Frühjahr 2020 die Lichter brennen, Klimaanlagen laufen und auch die Produktionsanlagen rund um die Uhr angeschaltet. Der Druck sei zu hoch, die vorgegebenen Quoten ihrer Vorgesetzten zu erfüllen, berichteten damals einige Whistleblower dem Wirtschaftsmagazin „Caixin“.

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Was das Vertrauen der Investoren ebenfalls beschädigt, ist die komplette Ignoranz der Parteiführung gegenüber den offensichtlichen Missständen. Premier Li Qiang sagte etwa in Davos: „China wird an der fundamentalen Politik der Öffnung festhalten und seine Tür zur Welt noch weiter aufmachen.“

Botschafter Toledo in Peking hingegen moniert, dass man in China mittlerweile nicht einmal mehr einen Universitätscampus frei betreten dürfe; und selbst Professoren bräuchten eine schriftliche Genehmigung der Partei, ehe sie ausländische Diplomaten treffen dürften. „Wir dachten, dass die Aufhebung der Pandemiemaßnahmen zu weniger Kontrolle führen würde und die Menschen sich freier fühlen würden“, sagt der Botschafter. „Nun, das ist nicht eingetreten.“

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