«Böse Zungen behaupten, ich sei medial eine Krisengewinnlerin»: Marie-Agnes Strack-Zimmermann lässt niemanden kalt

Die Spitzenkandidatin der deutschen FDP für die Europawahl ist durch den Krieg in der Ukraine bekannt geworden. Die einen verehren sie, die anderen verachten sie. Dazwischen gibt es wenig. Eine Begegnung.

Marco Seliger, Halle an der Saale 7 min
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Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Spitzenkandidatin der FDP für die Wahlen zum Europaparlament.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Spitzenkandidatin der FDP für die Wahlen zum Europaparlament.

Thomas Bartilla / Imago

Das Parkett klebt von den Getränken, die hier an Wochenenden verschüttet werden. Von der Decke baumelt eine Discokugel, rote Vorhänge dimmen das Tageslicht, der Bartender reicht Softdrinks. Um 13 Uhr betritt Marie-Agnes Strack-Zimmermann an einem Werktag im Mai die «Tanzbar Palette» in Halle an der Saale. Sie hat die Hände in den Taschen ihrer grauen Hose vergraben, trägt ein hellblaues Hemd und schwarze Turnschuhe. «Guten Tag», sagt die 66-Jährige lächelnd, und Menschen in Poloshirts, die ihre Enkelkinder sein könnten, applaudieren freundlich.

Das Pfeifkonzert unten auf der Strasse wird durch die Fenster und Vorhänge gedämpft. Es sind rund zwei Dutzend Demonstranten. «Gegen Kriegstreiber», steht auf einem Plakat. Und: «Wir – das Volk ist für Frieden und gegen jede deutsche Unterstützung von Kriegen». Sie sollten jetzt mal ein bisschen lauter sein, ruft ein Mann in ein Megafon, «die da oben» würden sonst nichts hören.

Der Lärm von der Strasse schwillt an, und der Vorsitzende der Liberalen Hochschulgruppe Halle sagt zur Begrüssung von Marie-Agnes Strack-Zimmermann, dass diese eben nicht nur Freunde habe. Als die FDP-Bundestagsabgeordnete kurz darauf zum Mikrofon greift, wird schnell klar, dass «MASZ», wie sie sich selbst abkürzt, nicht nach Sachsen-Anhalt gekommen ist, um über den Krieg in der Ukraine zu sprechen. Es ist Wahlkampf in der EU, und Strack-Zimmermann will über Europa reden. Sie ist die Spitzenkandidatin der Liberalen in Deutschland für die Europawahl am 9. Juni.

Seit Anfang Januar tourt Strack-Zimmermann in dieser Rolle durch die Republik, und sie tut, was Politiker im Wahlkampf oft tun: Sie verspricht Dinge, von denen sie weiss, dass sie sie allein gar nicht erfüllen kann. Sie wolle die EU-Bürokratie reduzieren, sagt sie, das Verbot von Verbrennermotoren kippen und das Lieferkettengesetz stoppen. Die Vorhaben sind urliberal. Doch so, wie die Kandidatin darüber spricht, springt kein Funke über zwischen ihr und den überwiegend studentischen Zuhörern. Strack-Zimmermann als Kämpferin gegen Bürokratie und für Technologieoffenheit? Diese Rolle wirkt fremd.

Die schärfste Kritikerin des Kanzlers

Seit mehr als zwei Jahren ist die gebürtige Düsseldorferin eine der prominentesten deutschen Stimmen für die Ukraine, eine der vehementesten Unterstützerinnen des überfallenen Landes. Sie gilt als schärfste Kritikerin der aus ihrer Sicht viel zu zögerlichen Waffenhilfe von Olaf Scholz. Seit dem russischen Überfall sitzt sie wie ein Stachel im Fleisch des Bundeskanzlers, der sich wiederum intern oft über die FDP-Frau beklagt haben soll. Es gibt viele Leute, die sie dafür verehren, und viele, die sie furchtbar finden. Leute, die etwas dazwischen empfinden, sind in der Minderheit.

In der deutschen Politik behaupten manche, dass die Liberale genau wegen dieser polarisierenden Art von ihrer Partei nach Brüssel «abgeschoben» werde. Ein Sozialdemokrat sagt, er höre «von den Kollegen der FDP», dass sie Strack-Zimmermann lieber von hinten als von vorne sähen. Aus der Union meint einer, er glaube, Christian Lindner, der Vorsitzende der FDP, sei froh, dass «diese nervige Person» aus Berlin verschwinde.

Vielleicht ist Strack-Zimmermann aber auch einfach nur klug. Sie nutzt ihre nationale Bekanntheit für den Europawahlkampf und entkommt so der Gefahr, im kommenden Jahr bei der Bundestagswahl mit der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Umfragen belegen, dass dieses Risiko ernsthaft besteht. Die Kandidatur für Brüssel, heisst es aus der FDP, sei ihr eigener Vorschlag gewesen. Beim Parteichef Lindner sei Strack-Zimmermann damit auf offene Ohren gestossen, weil er mit der früheren FDP-Spitzenkandidatin und Vizepräsidentin des Europaparlaments Nicola Beer unzufrieden sei. Beer ist inzwischen Vizepräsidentin der Europäischen Investitionsbank.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (2. v. r.) im Februar in der ARD-Talkshow «Maischberger».

Marie-Agnes Strack-Zimmermann (2. v. r.) im Februar in der ARD-Talkshow «Maischberger».

Thomas Bartilla / Imago

Was auch immer zutrifft, Strack-Zimmermann ist eine Frau, die aneckt. Nachdem sie im Dezember 2021 zur Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag gewählt worden war und Wladimir Putin 70 Tage später den Angriffsbefehl gegeben hatte, hat sie das Amt zu ihrer persönlichen Bühne gemacht. Keiner ihrer Vorgänger konnte eine solche Medienpräsenz und Bekanntheit aufweisen. Kaum eine Talkshow zur Ukraine fand ohne die FDP-Politikerin statt. Kompromisslos schlug sie sich dort mit linken Pazifisten und rechten Putin-Freunden herum. Ihre Forderung nach schnelleren und umfassenden Waffenlieferungen führte dazu, dass sie als «Kriegstreiberin» und «Waffenlobbyistin» verunglimpft wird.

Popularität weckt Neid

Irgendwann war Strack-Zimmermann so bekannt, dass sie, wie sie dem «Bild»-Journalisten Paul Ronzheimer in seinem Podcast erzählte, von Leuten auf der Strasse als «Frau Ministerin» angesprochen worden sei. Diese hätten gedacht, bei ihrer Medienpräsenz müsse sie wohl die Chefin des deutschen Wehrressorts sein. So viel Popularität weckt Neid. Sie missbrauche das Amt als Ausschussvorsitzende für ihre Profilierung, klagen Abgeordnete. Ihre Funktion gebiete Neutralität. Stattdessen nehme sie den gesamten Ausschuss mit ihren Äusserungen in Sippenhaftung, so als seien ihre Positionen auch die der anderen Mitglieder.

Wie aufgeladen die Stimmung auch in der Regierung ist, zeigte sich im Herbst vorigen Jahres auf einer Tagung der Bundeswehr. Nachdem der Kanzler geredet hatte, fragte ihn Strack-Zimmermann in provokanter Weise vor Hunderten Soldaten nach seiner Ukraine-Strategie. In der Frage steckte implizit der Vorwurf, er habe keine. «Boah, die Alte nervt», soll daraufhin dem Sicherheitsberater von Scholz, Jens Plötner, entfahren sein. Hinter Plötner sitzende Abgeordnete hätten ihr das bestätigt, sagte Strack-Zimmermann später. Sie machte den Disput auf der Plattform X öffentlich – und nutzt den Ausspruch im Wahlkampf.

Ihre kritische Haltung zu Scholz macht sie immer wieder deutlich. Er sei nicht ihr Kanzler, sagte sie etwa, als sich Scholz zum wiederholten Male weigerte, Marschflugkörper des Typs Taurus an die Ukraine zu liefern. Doch Strack-Zimmermann ist auch Mitglied im Vorstand der FDP, die Scholz gemeinsam mit SPD und Grünen zum Regierungschef gewählt hat. Sie schade mit ihren Äusserungen nicht nur Scholz, sondern der Regierung insgesamt und damit auch der FDP, wüteten Sozialdemokraten öffentlich, und einige Liberale stimmten hinter den Kulissen zu.

Plakate zur Wahl des Europaparlaments in Münster, Nordrhein-Westfalen.

Plakate zur Wahl des Europaparlaments in Münster, Nordrhein-Westfalen.

Rüdiger Wölk / Imago

Strack-Zimmermann ficht das nicht an. Nach ihrem Auftritt in der «Tanzbar Palette» in Halle sitzt sie in einer Lounge, trinkt Wasser und isst Gebäck. Sie hat noch etwas Zeit bis zur Abfahrt zum nächsten Termin am Abend in Magdeburg. «Scholz ist der falsche Mann in diesen furchtbaren und herausfordernden Zeiten», sagt sie. Unten auf der Strasse, wo vor anderthalb Stunden noch die Demonstranten gepfiffen haben, herrscht wieder Ruhe. Ob sie mit ihm mal das Gespräch über die Waffenlieferungen gesucht habe? «Vergessen Sie es», erwidert sie. Mit Scholz könne man nicht reden. Man komme nicht heran.

Christian Lindner trägt ihren Kurs mit

Als der Fraktionschef der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, im Frühjahr mahnte, man müsse auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren könne, setzte ihn Strack-Zimmermann mit Björn Höcke von der rechten AfD und der Linken Sahra Wagenknecht gleich. Dass diese Mützenichs Aussage goutierten und klatschten, sage alles, meinte sie. Vertreter der SPD nannten sie daraufhin niveaulos und bösartig.

Es gibt Wohlmeinende in der FDP, die sagen, sie lasse sich eben nicht verbiegen. Andere beklagen ihre Kompromisslosigkeit, die das Klima in der ohnehin schwierigen Drei-Parteien-Regierung weiter vergifte. Der liberale Parteichef Lindner, heisst es, soll sie im vergangenen Jahr für einige Zeit um Mässigung gebeten haben, um die Stimmung in der Koalition zu heben. Doch er trage den Kurs von Strack-Zimmermann grundsätzlich mit, die beiden stimmten sich nahezu täglich ab.

Strack-Zimmermann war nicht immer so polarisierend und kompromisslos. Sie studierte Publizistik, Politikwissenschaft und Germanistik in München. Nach ihrer Promotion arbeitete sie für einen Nürnberger Jugendbuchverlag, ehe sie in ihrer Heimatstadt Düsseldorf im Jahr 2008 zur Ersten Bürgermeisterin gewählt wurde. Frei und unbeschwert seien die folgenden sechs Jahre gewesen, sagt sie, ganz anders als die Gegenwart mit ihren vielen Krisen.

Als sie 2017 erstmals in den Bundestag gewählt wurde, konzentrierte sie sich auf die Verteidigungspolitik. Bis zum russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 konnte man damit in Deutschland politisch keinen Blumentopf gewinnen. Danach fragten die Medien plötzlich nach Militärfachleuten. Gemeinsam mit Michael Roth von der SPD und Anton Hofreiter von den Grünen reiste Strack-Zimmermann als erste deutsche Politikerin im April 2022 in die Ukraine – vor dem Kanzler und der Aussenministerin. «Böse Zungen behaupten, ich sei medial eine Krisengewinnlerin», sagt sie in Halle. Dass sie den Satz anschliessend unkommentiert stehenlässt, zeigt, dass sie mit der Aussage kein Problem zu haben scheint.

Projektionsfigur für Krieg und Frieden

Es ist dieser Ruf, der ihr bei nahezu jedem Wahlkampfauftritt vorauseilt. So wie die deutsche Friedensbewegung früher verlässlich vor den Toren von Rüstungsunternehmen demonstriert hat, läuft heute eine Mischung aus linken und AfD-nahen Russland-Unterstützern an den Orten auf, an denen Strack-Zimmermann angekündigt ist. Sie ist Projektionsfigur für Krieg und Frieden, nicht für Verbrennermotor und Lieferkettengesetz.

Als sie im vergangenen Winter auf einer Veranstaltung im baden-württembergischen Ravensburg ausgebuht wurde, verlor sie die Fassung. Die Störer fuhr sie mit den Worten an, dass diese, wenn sie wirkliche Demokraten wären, zuhören und dann diskutieren würden. Aber sie seien «zum Teil zu blöd, um ’ne Pfeife in den Mund zu stecken». Inzwischen, sagt Strack-Zimmermann in Halle, sei sie gelassener geworden, aber zurückzunehmen gebe es nichts. Es mache ihr heute nichts mehr aus, wenn sie eine Kriegstreiberin genannt werde.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann 2023 in einem Kampfflugzeug Eurofighter, in dem sie auch schon einmal mitgeflogen ist.

Marie-Agnes Strack-Zimmermann 2023 in einem Kampfflugzeug Eurofighter, in dem sie auch schon einmal mitgeflogen ist.

Chris Emil Janssen / Imago

In der Diskussion im Anschluss an ihre Wahlkampfrede in der «Tanzbar Palette» sagt eine Frau, sie sei im Vorjahr in der Ukraine gewesen, man könne dort Ferien machen. Strack-Zimmermann kennt solche Provokationen. Immer wieder gebe es Leute, die den Krieg in der Ukraine zu relativieren suchten. Sie lässt den Affront unkommentiert und wendet sich demonstrativ an die Studenten: «Für euch will ich Politik in Brüssel machen, damit ihr und eure Enkelkinder auch künftig in Sicherheit leben könnt.» Das klingt friedlich. Aber wer Strack-Zimmermann kennt, der weiss, dass dieser Eindruck täuscht.