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„Casablanca Art School“ in der Schirn: Eine abstrakte Welle aus Marokko

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Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht. Foto: Norbert Miguletz/Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024
Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde 1962–1987, Ausstellungsansicht. Foto: Norbert Miguletz/Schirn Kunsthalle Frankfurt 2024 © Norbert Miguletz

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt präsentiert die Casablanca Art School, die eine moderne Kunstbewegung ins Leben ruft und ein postkoloniales Netzwerk knüpft.

Manche Dinge erscheinen einem fremd und vertraut zugleich. Bei der Kunst der Casablanca Art School ist das ein wenig so: Die ausdrucksstarken Farben, die geometrische Abstraktion erinnern an die westliche Pop Art oder Op Art, aber da sind auch noch andere Einflüsse, die man vielleicht nicht direkt einordnen kann. Überhaupt hat man bisher in der westlichen Welt relativ wenig Kunst der Casablanca Art School gesehen.

Noch immer sind die Werke dieser Schule und dieses Kollektivs in den wenigsten großen Museumssammlungen zu finden. Längst überfällig erscheint deshalb die Ausstellung „Casablanca Art School. Eine postkoloniale Avantgarde“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt. Rund 100 Werke von 22 Künstlerinnen, hauptsächlich aber Künstlern, geben einen ersten Einblick in eine wahnsinnig produktive, moderne und emanzipatorische Phase der marokkanischen Kunst. Sie beginnt im Jahr 1956, mit der Unabhängigkeit von der französischen und spanischen Kolonialherrschaft, und endet in den späten 1980er Jahren, als die Protagonisten sich vom Kollektiv loseisen und ihre eigenen Wege gehen.

Maßgeblich treiben drei Künstler die neue Kunstbewegung an: Farid Belkahia (1934-2014), ein Sympathisant der weltweiten antikolonialen Bewegungen, der 1962 Direktor der Kunsthochschule in Casablanca wird. (In Marrakesch verwaltet heute ein Museum seinen Nachlass.) Sowie Mohammed Chabâa (1935-2013) und Mohamed Melehi (1936-2020), die Dozenten für Malerei, Collage und Fotografie, Grafik und Raumgestaltung werden. Ihre künstlerische Arbeit ist ein Befreiungsschlag von den kolonial und akademisch geprägten Vorstellungen von Kunst und Lehre: Statt des Studiums der klassischen schönen Künste, wie sie bisher in der Kunstakademie gelehrt wurden, geht es jetzt um einen eigenen Ausdruck, eine eigene Identität: Inspiration finden die Künstler im afro-amazighischen Erbe, in traditionellen marokkanischen Künsten wie der Deckenmalerei, Teppichen, Schmuck und Kalligrafie. Ihre kulturellen Wurzeln verbinden sie mit der Moderne, mit Abstraktion und den Prinzipien des Bauhauses.

Die neue Kunst, so ist die Idee, soll von nun an zum marokkanischen Alltag gehören. Eine erste wegweisende Ausstellung stellt das Trio 1966 in dem halböffentlichen Raum des Théâtre National Mohammed V. in Rabat auf die Beine. Es geht dabei auch um Protest: Noch immer haben es marokkanische Künstlerinnen und Künstler schwer, Galerien zu finden, in denen sie ausstellen können. Im großen Stil setzt die Casablanca Art School ihr Credo einer öffentlichen Kunst 1969 in der Schau „Présence Plastique“ um. Gemälde werden auf öffentlichen Plätzen in Marrakesch und in Casablanca präsentiert, die Ausstellung besetzt weitere öffentliche Räume und tourt durch Schulen.

In der Schirn sind zahlreiche ausdrucksstarke, farbintensive Gemälde des Kollektivs und den innovativsten Studierenden der Kunsthochschule aus den Anfangsjahren zu sehen, darunter sind auch Werke von Malika Agueznay, Abdellah El Hariri und Houssein Miloudi. Die geschwungenen Formen der Kalligrafie sind in ihren Arbeiten deutlich erkennbar, oft treten auch stilisierte Interpretationen traditioneller Deckenmalerei auf - oder es wird fast minimalistisch abstrakt. Wie digital erfasste, schwarz-weiße Op-Art-Hieroglyphen wirken die Zeichen auf einem Bild von Houssein Miloudi aus dem Jahr 1967. Mohammed Chabâa beschreibt die komplexen Formen der Kalligrafie mit mathematischer Berechnung: Eine Werkserie in strahlenden Farben wirkt wie eine Art Computerkunst.

Das Kollektiv fängt an, mit in Autowerkstätten üblichen Zellulosefarben statt mit Acryl zu malen. Farid Belkahia nutzt das traditionell in Marokko verarbeitete Kupfer für seine reliefartigen Werke oder spannt Ziegenhaut statt einer Leinwand auf. Seine großformatige Ziegenhaut-Arbeit „Procession“ von 1985 wurde vermutlich vor dieser Schau noch nie ausgestellt, sagt der Kurator Morad Montazami, der von 2014 bis 2019 als Spezialist für Nahost und Nordafrika an der Londoner Tate Modern gearbeitet hat.

Die Arbeiten der Casablanca Art School wirken sehr modern, vor allem für die damalige Zeit. Dennoch hatte die westliche Kunstwelt keinen Blick für sie. Zwar hatten die Mitglieder des Casablanca-Trios schon 1959 bei der Biennale de Paris ausgestellt, aber die neuen internationalen Verbindungen des marokkanischen Kollektivs gehen nun vor allem in die afrikanische und arabische Welt, nach Kuba und in lateinamerikanische Länder, Mexiko, Chile.

Einige wenige Europäer und Europäerinnen haben Anteil an der Casablanca Art School. Der Niederländer Bert Flint etwa, der an der Schule Visuelle Anthropologie lehrt, die italienische Kunsthistorikerin Toni Maraini oder die mit der Art School assoziierte Italienerin Carla Accardi (1924-2014). Von ihr werden in der Schirn einige Werke gezeigt. Auch der Bauhaus-Künstler Herbert Bayer (1900-1985) reist regelmäßig nach Marokko, wo er sich mit Mohamed Melehi austauscht. Die mit der Schule assoziierten Künstler:innen sind in der Schirn mit gelben statt weißen Schildern gekennzeichnet.

Das neue, postkoloniale Netzwerk spiegelt sich in den grafisch gestalteten Plakaten der Casablanca Art School wider. Auf ihnen verschmilzt Kunst mit politischem Aktivismus: Unter anderem wird zur Unterstützung des chilenischen Volkes gegen das Militärregime oder zur Solidarität mit der palästinensischen Bevölkerung aufgerufen. Um dekolonisierte und demokratische Kunst geht es auch in der seit 1966 publizierten und 1972 verbotenen Zeitschrift „Souffles“. Ihr Grafiker, Mohammed Chabâa, wird als marxistischer Aktivist verhaftet und muss für zwei Jahre ins Gefängnis gehen.

Doch der Erfolg der Casablanca Art School hält an: Bei der ersten Biennale of Arab Art 1974 in Bagdad profiliert sich die Schule mit Werken von 14 aus ihrem Dunstkreis stammenden Künstler:innen, die sich mit ihrer eigenständigen Bildsprache gegen den Sozialistischen Realismus und surrealistische Tendenzen stellen. 1979 gründen Mohamed Melehi und Mohamed Benaïssa zusammen mit Toni Maraini das heute noch existierende Kulturfestival Asilah Moussem Culturel, bei dem internationale Künstlerinnen und Künstler die Stadt mit Wandmalereien und Workshops beleben. Die Kunst ins tägliche Leben zu bringen – dieses Ziel setzt die Casablanca Art School von 1967 bis 1982 auch in ihren Entwürfen und mit der Innenausstattung von öffentlichen Gebäuden und Hotels um.

Warum die Casablanca Art School so lange nicht in der westlichen Kunstwelt wahrgenommen wurde, erklärt sich Kurator Morad Montazami mit dem Kalten Krieg, den damals aufflammenden Konflikten im Nahen Osten und „neoimperialistischen Strategien“. Diese Spannungsfelder sind heute keineswegs Schnee von gestern – gerade deshalb erscheint diese Schau so aktuell, wie eine Kunstausstellung nur sein kann.

Schirn Kunsthalle Frankfurt: bis 13. Oktober. schirn.de

Wandgemälde im Entstehen beim Festival Asilah Moussem Culturel, 1978. Foto: Mohamed Melehi / Mohamed Melehi Estate
Wandgemälde im Entstehen beim Festival Asilah Moussem Culturel, 1978. Foto: Mohamed Melehi / Mohamed Melehi Estate © Mohamed Melehi / Mohamed Melehi Estate
Malika Agueznay, Ohne Titel, 1986. Foto: The artist. Courtesy of private collection, Marrakech
Malika Agueznay, Ohne Titel, 1986. Foto: The artist. Courtesy of private collection, Marrakech © The artist. Courtesy of private collection, Marrakech
Mohammed Chabâa, Ohne Titel, 1977. Foto: Mohammed Chabâa estate/ Fouad Mazouz
Mohammed Chabâa, Ohne Titel, 1977. Foto: Mohammed Chabâa estate/ Fouad Mazouz © FOUAD MAAZOUZ maazouz@Gmail.com

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