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Rezension
Nähe und Distanz

Ewald Frie und Steffen Mau sind in ihren Erfolgsbüchern an ihre Herkunftsorte zurückgekehrt. Es sind intensiv durchgearbeitete Sachbücher entstanden.

Von Julika Griem 28.05.2024

Politisch geforderte und geförderte Wissenschaftskommunikation zeigt sich gern auf spektakuläre Weise: Auf großen Bühnen und in viel geklickten Foren, vor einem jubelnd abstimmenden Slam-Publikum. Festival-Formate liefern Sichtbarkeit, Gemeinschaftserlebnisse und "Wissenschaft zum Anfassen" in einer Gesellschaft, die sich in vielen Fragen zu zerspalten scheint. Parallel zu dieser professionalisierten Bewirtschaftung unterhaltsamer Events sollten wir uns aber fragen, wie wir im überschaubar ausgestatteten Normalgeschäft des akademischen Alltags kommunikative Strukturen verändern. Dies kann, wie am 22. Februar im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen (KWI), auch in kleinerem Maßstab gelingen.

Bemerkenswerte Resonanz beim Lesepublikum

Zu Gast waren der Historiker Ewald Frie und der Soziologe Steffen Mau, die mit zwei besonderen Büchern eine bemerkenswerte Resonanz bei einem größeren Lesepublikum erzeugt haben. Fries "Ein Hof und elf Geschwister" verknüpft mit einer Hofbesichtigung im Münsterland die Agrar- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik und gewann 2023 den Sachbuchpreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels. Steffen Maus "Lütten Klein" verfolgt die Entwicklung eines Rostocker Plattenbau-Viertels und liefert gute Gründe dafür, den Autor 2023 mit dem Communicator Preis der DFG auszuzeichnen. Ein dankbares Sprungbrett also, um zwei anerkannte und viel gelesene Forscher als "talking heads" zu Tagesthemen in Stellung zu bringen: Wohin führen die Bauernproteste, wie gehen die Wahlen in Ostdeutschland aus, was raten Sie der Politik?

Der Abend gestaltete sich jedoch anders, denn schon in ihren Büchern haben die beiden Autoren einiges anders gemacht. Der Historiker führte Interviews mit seinen Geschwistern, um dem Wandel bäuerlicher Lebenswelten im Detail nachzuspüren; der Soziologe klopfte an Türen seiner alten Nachbarschaft, um Hoffnungen und Verwerfungen ausgehend von der baulichen Anlage in alltäglichen Vollzügen zu rekonstruieren. Frie und Mau richteten damit ein methodisch geschärftes Brennglas auf ihre Heimatorte; sie gingen für deutsche Verhältnisse ungewohnt subjektiv vor, indem sie ihre Kindheit und Familie, ihr Aufwachsen und ihren Bildungsgang, ihre soziale Herkunft und Ankunft mit einer Analyse unterschiedlicher deutscher Lebensverhältnisse verbunden haben. 

Keine Homestories

Nähe- und Distanzverhältnisse wurden von Frie und Mau nicht nur in ihren Texten, sondern auch im Gespräch am KWI neu vermessen. Beide Erfolgsbücher präsentieren in einzelnen Szenen "Hausbesuche" in den früheren Kinderzimmern der Autoren. Hier hätten sich, den Gepflogenheiten populärer Sachbuchproduktion folgend, leicht "home-stories" einnisten können, wie im deutschen Journalismus der Authentizität versprechende Schritt ins Private gern genannt wird. Frie und Mau vermeiden jedoch konsequent die rhetorische Kumpanei direkter Ansprache ebenso wie atmosphärische Suggestion durch Adjektivkaskaden und Schablonen aus dem storytelling-Baukasten. Gerade ihre dichten Beschreibungen der Herkunftswelten überzeugen durch eine nüchterne und bei Frie fast zarte Genauigkeit, die ohne vorgestanzte Phrasen auskommt. So sind intensiv durchgearbeitete Sachbücher entstanden, für die es auch auf Verlagsseite viel Zeit und Sorgfalt braucht. 

Die Rückkehr an Herkunftsorte, seit dem Erfolg von Didier Eribons "Retour à Reims" ein Erfolgsrezept akademischer Selbsterkundung, bestimmt auch "Lütten Klein" und "Ein Hof und elf Geschwister". Steffen Mau und Ewald Frie schreiben und argumentieren aber weder als Davongekommene noch als Bekenntnisartisten. Mit ihren soziologisch und zeitgeschichtlich angereicherten Heimatbesuchen schauen sie nicht triumphierend und auch nicht exotisierend auf das Milieu, von dem sie sich als erfolgreiche Wissenschaftler entfernt haben. Eine Nähe und Distanz behutsam austarierende Ortsbestimmung zeichnet beide Bücher zudem in methodischer Hinsicht aus: Hier wird eine Wissensproduktion anschaulich situiert, die sich gerade nicht der majestätischen Vogelperspektive bedient, aus der in vielen populäreren Sachbüchern willkürlich ausgewählte "Studien" zu dicken Thesen-Teppichen verwebt werden. 

Bewegungsfreiheit akademischer Textproduktion

Im Kontext anglo-amerikanischer Geistes- und Sozialwissenschaften hat es sich als neue Konvention der Selbstverortung herausgebildet, die eigene Identität in Form von "positionality statements" zu explizieren, um die Entstehung von Forschungsbeiträgen transparenter zu machen. Dies kann methodische Voraussetzungen erhellen, aber auch zur bekennerhaften Routine erstarren. Steffen Mau und Ewald Frie haben sich dagegen eine Bewegungsfreiheit akademischer Textproduktion erarbeitet, die zu kreativer Nachahmung einlädt. 

Im Gespräch am KWI schilderten sie, dass die Arbeit des Schreibens gerade für deutsche Professoren nicht vom Himmel fällt: Beide haben viel "für die Schublade" geschrieben; haben sich in Formen und Genres geübt, für die es im deutschen Wissenschaftssystem immer noch wenig Belohnung gibt. Dass sich dies dennoch lohnt, ist bei Ewald Frie und Steffen Mau nicht nur durch Lektüre, sondern auch im sehr unterhaltsamen Gespräch vor einem konzentrierten Publikum erfahrbar: Als souveränes Fragen nach den Grenzen der eigenen Expertise, als genuines Interesse an überzeugenden Verbindungen von Inhalt und Form, als geduldige Ambition, durch kleine Unterschiede überraschende Einsichten und neue Gesprächsanlässe zu erzeugen. 

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland. C.H. Beck Verlag 2023.

Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Suhrkamp Verlag 2020.