Das Bild zeigt die Figur der Justitia mit einem Buch vor dem Landgericht in Berlin-Charlottenburg.
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Prinzip der Unschuldsvermutung
Genug der vorschnellen Verurteilungen

Der Vorwurf wissenschaftlichen Fehlverhaltens wiegt schwer. Dennoch darf das Wissenschaftssystem seine ethischen Standards nicht preisgeben.

Von Georg Schütte 07.06.2024

Wenn die Richtigkeit wissenschaftlicher Artikel infrage steht, ist es gut, dass es Wege gibt, um sich selbst ein Bild zu machen. Das Internet bietet hierfür zahlreiche Möglichkeiten. Der Berliner Neurologe Ulrich Dirnagl allerdings warnte, dass "statt Fehlerkultur eine denunziatorische Atmosphäre" entstehen könnte. Der Fall der Kieler Universitätspräsidentin hat mir Dirnagls Warnung wieder ins Gedächtnis gerufen. Was war geschehen?

Im Februar 2024 trat die renommierte Krebsforscherin Simone Fulda von ihrem Spitzenamt zurück. Vorher waren auf der US-Plattform "PubPeer" etliche ihrer wissenschaftlichen Artikel als fehlerhaft kritisiert worden. Publik gemacht hatte die Beschuldigungen der promovierte Lebenswissenschaftler Leonid Schneider. In seinem Blog "For Better Science" heißt es, schlechte Wissenschaft würde nur selten öffentlich entlarvt, Betrug und ethisches Fehlverhalten würden vom Wissenschaftssystem routinemäßig vertuscht. 

Die Anschuldigungen gegen Fulda waren schon wochenlang in der Welt, fanden aber erst in dem Moment Aufmerksamkeit, als die Kieler Universität im Exzellenzcluster-Wettbewerb mit drei Anträgen gescheitert war. Die Enttäuschung war groß, hinzu kamen unreflektierte Medienberichte zu den Vorwürfen gegen Fulda. Binnen Tagen wandten sich viele ab, die Fulda dreieinhalb Jahre vorher zu ihrer Präsidentin gewählt hatten. Sie gehe "schweren Herzens", ließ Fulda verlautbaren, "da leider bei Teilen der Universität keine ausreichende Vertrauensbasis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mehr vorhanden ist." 

"Statt Fehlerkultur eine denunziatorische Atmosphäre"

Es steht mir eindeutig nicht zu, den Kieler Fall zu bewerten. Was an den Vorwürfen dran ist, haben jetzt die Ombudsgremien zu klären. Richtschnur hierfür sind die einschlägigen "Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis". Was mich allerdings über den aktuellen Fall hinaus beunruhigt: Müssen sich Forschende in Leitungspositionen vermehrt darauf einstellen, aufgrund unbewiesener Vorwürfe ihr Amt zu verlieren – noch bevor eine formelle Prüfung ihre Schuld oder Unschuld bewiesen hat? Droht uns, um noch mal Dirnagl zu zitieren, "statt Fehlerkultur eine denunziatorische Atmosphäre"?

Im "Laborjournal" wird Klaus-Michael Debatin, ebenfalls ein dekorierter Krebsforscher und Wegbegleiter von Simone Fulda, so zitiert: "Unsere gemeinsamen Publikationen sind in den letzten 25 Jahren hundertfach zitiert und reproduziert worden. Niemand hat Fehler gefunden. Wenn jetzt jemand nach all den Jahren Dinge hervorholt, dann kann ich das nicht mit einem genuinen Interesse an wissenschaftlicher Wahrheit in Einklang bringen."

Rechtsstaatliches Prinzip der Unschuldsvermutung

Mich beunruhigt der Anlass nicht nur mit Blick auf die Wissenschaft. Überall im Land werden Leitungs- und Leistungsträgerinnen und -träger in Ämtern auf kommunaler oder regionaler Ebene diskreditiert, mit Vorwürfen überschüttet und teils sogar mit physischer Gewalt bedroht – und erhalten in den seltensten Fällen Rückendeckung. Im Gegenteil: Das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung wird missachtet, unbewiesene Vorwürfe ziehen so lange Kreise, bis die angezählte Person aufgibt. Eindringlich will ich dafür sensibilisieren, dass wir, die wir Verantwortung im Wissenschaftssystem tragen, unsere ethischen Standards nicht preisgeben dürfen. Dass wir nicht außerwissenschaftlichem Druck und populistischen Strategien nachgeben. Nicht Menschen voreilig ausgrenzen; hinter jedem Fall steht ein persönliches Schicksal. 

Und seien wir uns bewusst: Auch wir können jederzeit zum Opfer populistischen Eliten-Bashings werden. Wie wollen wir dann behandelt werden?