Das Bild zeigt Doktorhüte in der Luft.
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Bologna-Reform
Studieren vor und nach Bologna

Vor 25 Jahren wurde die Bologna-Reform beschlossen. Wie hat die Reform das Studium verändert? Zwei Hochschullehrende berichten aus ihrer Studienzeit.

Forschung & Lehre: Herr Professor Ladenthin, Sie haben in einer Zeit studiert, in der Bologna nur als Universitätsstadt in Mittelitalien bekannt war, während Sie, Frau Juniorprofessorin Noack, geprägt von den Effekten der Bologna-Reform in die Wissenschaftswelt gestartet sind. Was sehen Sie jeweils vor Ihrem inneren Auge, wenn Sie an Ihre Studienzeit zurückdenken?

Claudia Noack: Da sehe ich mich an meinen ersten Tagen an der Universität, die damals etwas komplett Neues für mich war. Ich erinnere mich an die Worte des Universitätspräsidenten bei der Einführungsveranstaltung. Er sagte: Wenn Sie im Hörsaal sitzen, haben Sie immer zwei Arten von Personen neben sich: Eine werden Sie nie wiedersehen, die andere wird für immer Ihre Freundin oder Ihr Freund bleiben. Und für mich kann ich sagen: Das ist wahr! 

Volker Ladenthin: Ich erinnere den Geruch der neuen Bücher im Buchladen, von denen man nicht mal wusste, dass es sie überhaupt gibt. Und diese Bücher durfte man jetzt vor Beginn des Semesters kaufen und mit nach Hause nehmen. Das war ein Moment absoluten Glücks. Mein erster Kauf waren mittelhochdeutsche Texte von Walther von der Vogelweide und ein Band zur griechischen Geschichte für damals 56 Mark. Mein Vater hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, er konnte nicht verstehen, wie man für Bücher so viel Geld ausgeben kann. 

Porträt von Claudia Noack
Claudia Noack ist Juniorprofessorin im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Universität Bonn. privat

F&L: Ein Kritikpunkt an der Bologna-Reform ist, dass sie das Studium verschult habe. Wie nehmen Sie das wahr?

Claudia Noack: Das hängt sicherlich vom Fach ab, denn in einigen Disziplinen muss man sich zunächst die Grundlagen aneignen, um die Inhalte richtig verstehen zu können. Für mich war ein festes Grundgerüst daher wichtig. Es hat mir Sicherheit gegeben, dass die Kurse aufeinander aufbauen. Wenn man neu an die Universität kommt, sind nach meinem Eindruck viele erst mal überfordert, da sie nicht wissen, wie das System "Hochschule" funktioniert. Auch ich fand es sehr hilfreich, als mir gesagt wurde, im ersten Semester hörst du dies und im zweiten Semester hörst du das, was einen nicht davon abhält, nebenbei noch andere Veranstaltungen zu besuchen, falls man daran interessiert ist.

Volker Ladenthin: Ich habe das genau umgekehrt erlebt. Erst mal habe ich mich als Neuling ganz naiv reingestürzt in alle Anforderungen. Dann habe ich gemerkt, ich bin überfordert, und habe reagiert, indem ich meine eigenen Schwerpunkte gesetzt habe. Das fand ich sehr reizvoll. Natürlich gab es bei uns auch fürchterliche Pflichtkurse, die wir absolvieren mussten, wie Hilfsmittelkunde, aber man hatte die Möglichkeit, zu staunen über die Breite der Themen, und war motiviert, sich anzustrengen.

F&L: Hatten Sie den Eindruck, dass alle diese Freiheit so genießen konnten wie Sie?

Volker Ladenthin: Problematisch war es für die Studierenden, die sich nicht gut orientieren und strukturieren konnten. Ich würde schätzen, dass 20 Prozent der Studierenden bei uns damals bereits im zwanzigsten Semester waren. Es gab sehr viele Misserfolge, vor allem bei Studierenden, die sich nicht zur Prüfung meldeten, weil sie Angst hatten, dass sie durchfallen könnten. Heute werden alle sanft zur Prüfung gezwungen. 

Porträt von Volker Ladenthin
Volker Ladenthin ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Bonn. Claudia Friedrich

Schwierig war auch die Abhängigkeit von den Professorinnen und Professoren. Man hatte wenig Möglichkeiten, zu verifizieren, ob die Noten, die man bekam, auch gerechtfertigt waren, weil es keine curricularen Vergleiche gab. Es gab keine veröffentlichten Standards, auf die man sich hätte berufen können, keine Lehrzielbeschreibungen in etwaigen Akkreditierungsunterlagen. 

Zudem war es mit der Anwesenheit der Kolleginnen und Kollegen so eine Sache. Da gab es schon einige, bei denen es sehr, sehr lange dauerte, bis sie die Hausarbeiten korrigiert hatten. Die Prüfungsabläufe waren sehr locker, manchmal sehr unspezifisch: Man ging nach acht Semestern zur Anmeldung ins Prüfungsbüro, dort wurde festgestellt, ob noch etwas fehlte, was dann noch schnell nachgeholt werden musste. All das war nicht die Regel, aber ich habe es selbst erlebt.

F&L: Verändert hat sich auch die Prüfungskultur: weg von einer entscheidenden Prüfung zum Abschluss hin zu mehr Leistungsnachweisen während des Studiums. Wie haben Sie die Prüfungskultur während Ihres Studiums empfunden?

Volker Ladenthin: Die Abschlussprüfung war belastend, weil sie, wenn sie nicht klappte, das ganze Studium infrage gestellt hat. Aber meine Meinung dazu ist: Auch ein Pilot muss bei einem einzigen Flug sein Können zeigen. Dem Druck muss man standhalten können. Wenn man wie heute die einzelnen Phasen bewertet, bewertet man nicht das Studium als Ganzes. Die Aufspaltung von Wissenschaft in Teilkompetenzen empfinde ich als problematisch. Eine große Abschlussprüfung zeigt eher, ob jemand im Gesamten Germanistin oder Germanist war, und nicht etwa, ob er sich im Faust, erster Teil, dritte Szene auskennt. 

"Meine Meinung dazu ist: Auch ein Pilot muss bei einem einzigen Flug sein Können zeigen."

Volker Ladenthin

Claudia Noack: Ich bin froh, dass es nicht die eine Abschlussprüfung gab, das hätte bei mir sehr viel mehr Druck ausgelöst, als regelmäßige Prüfungsleistungen erbringen zu müssen. Allerdings haben wir heute das Problem des "Bulimie-Lernens". Es wird für die Klausuren viel und in kurzen Abschnitten gelernt und nach drei Monaten haben viele den Stoff wieder vergessen. 

Volker Ladenthin: Das ist sicherlich ein ganz großes Problem dieser neuen Art des Prüfungslernens, die seit der Bologna-Reform zugenommen hat. Trotz verpflichtender Vorkurse mussten wir bei Fortsetzungskursen die Themen auch dann wiederholen, wenn sie Inhalt der vorangegangenen Klausur waren. Das war gut, denn dadurch konnten die Prüfenden feststellen, ob die Studierenden die Inhalte wirklich verstanden hatten und anwenden konnten. 

Claudia Noack: Ich sehe trotzdem einen Vorteil in der aktuellen Prüfungskultur. Klar, in den Prüfungsphasen war es sehr stressig und intensiv, besonders wenn ich zig Prüfungen gleichzeitig machen musste, was schon einmal vorkam. Aber dadurch war ich nie in der Situation, dass am Ende alles von der Note einer Hausarbeit abhängt. Zwar kann ein Durchfallen je nach Fach das Ende des Studiums bedeuten. Trotzdem befürworte ich dieses strengere System, denn so wird verhindert, dass eine Person eine Klausur zehnfach nachschreibt, um am Ende dann doch festzustellen, dass das Studienfach nicht das richtige für sie ist.

Volker Ladenthin: Genau das, was Sie gerade beschreiben, hat dazu geführt, dass das alte universitäre System verschult wurde. Für jede einzelne Sitzung müssen Lernziele festgelegt werden, Klausuren sollen der Spiegel des Unterrichts sein, nicht mehr des Studiums. Das hat zur Folge, dass sich die Seminare fast nur noch auf quantitativ anprüfbare Klausurinhalte beziehen. Man kann sich den Luxus spontaner interessanter Diskussionen in den Veranstaltungen kaum mehr leisten. 

Claudia Noack: Ich kann mir vorstellen, dass mir für freie Diskussionen in der Lehre weniger Zeit bleibt, als es vielleicht zu Ihrer Studienzeit der Fall war, wenn ich Studierenden gewisse Grundlagen vermitteln muss. Gleichzeitig finde ich es aus eigener Erfahrung aus meinem Studium wichtig, dass Studierende zunächst verstehen, worum es in ihrem Fach geht, und sie für weiterführende Kurse gewisse Voraussetzungen erfüllen müssen. Insofern erscheint mir die stärkere Strukturierung des Studiums durch die Bologna-Reform sinnvoll.

Volker Ladenthin: Durch diese Jahrgangsorientierung durchmischen sich die Studierenden aber nicht mehr so stark wie früher, was ich für eine negative Entwicklung halte. Damals konnten die jüngeren Semester viel von den älteren lernen. Letztere wurden oft bestaunt für das, was sie schon alles wussten und konnten. Die haben die jüngeren mitgezogen. Jetzt haben wir an den Hochschulen nur noch Kohorten mit dem gleichen Niveau. 

F&L: Wie international haben Sie Ihr Studienumfeld wahrgenommen?

Claudia Noack: Im Bachelor war es noch Voraussetzung, Deutsch zu sprechen. Im Master wurde viel auf Englisch gelehrt und es wurde dadurch deutlich internationaler. Wir hatten viele Austauschstudierende. Fast alle meine Kommilitoninnen und Kommilitonen sind außerdem selbst ins Ausland gegangen und haben dort Scheine gemacht, die hier problemlos anerkannt wurden. Es gab viele Informationsveranstaltungen dazu vorab. Uns wurde es sehr leicht gemacht ins Ausland zu gehen: eine großartige Erfahrung, um den Horizont zu erweitern. 

Volker Ladenthin: Während meines Studiums war es für Sprachstudierende selbstverständlich, ins Ausland zu gehen. Bei anderen war es seltener und oft doch mehr – ich spitze jetzt zu – ein Skisemester in Innsbruck als ein Studium. Insgesamt waren Mobilität und Auslandsaufenthalte schwieriger zu organisieren, als es heute der Fall ist.

F&L: Über einzelne Aspekte haben wir bereits gesprochen. Wie hat sich die Idee der universitären Bildung durch Bologna aus Ihrer Sicht insgesamt verändert?

Volker Ladenthin: In meinen Augen haben eine Ökonomisierung und eine verstärkte Berufsorientierung stattgefunden. Natürlich muss die Universität auf die Berufswelt vorbereiten, aber es ist für mich ein Unterschied, ob man berufsorientiert oder direkt berufsbezogen ausbildet. Die starke Berufsbezogenheit hat zur Folge, dass die Berufswelt am Ende bestimmt, was gelehrt wird. Dann ist die Hochschule keine Hochschule mehr. Das ist eine "Verfachhochschulung" und hat mit dem Wesen der Universität als Mittel zur Veränderung von Praxis nichts mehr zu tun. Hinzu kommt eine Kommerzialisierung, durch die wachsende Ausrichtung in der Forschung auf die Einwerbung von Drittmitteln. Das geht in manchen Fächern besser, in anderen nicht so gut. Es hat aber immer zur Folge, dass für den Markt geforscht wird.

F&L: Frau Noack, Sie haben die Universität vor der Bologna-Reform nicht erlebt, aber die Diskussion über das Davor und Danach. Was sagen Sie: Ist der Kern der universitären Idee verloren gegangen? 

Claudia Noack: Da bin ich zwiegespalten. Ich bin auch auf jeden Fall dagegen, dass man Studierende für spezifische Jobs ausbildet. Gleichzeitig sehe ich am Beispiel meines Fachbereiches, dass es durchaus Überschneidungen gibt von Qualifikationen, die sowohl im akademischen Bereich als auch in vielen Jobs außerhalb der Universität gesucht werden wie ein guter Umgang oder Interpretationen von statistischen Daten. Eine Förderung solcher Qualifikationen halte ich durchaus für sinnvoll.

F&L: Wenn Sie sich vorstellen, Sie wären Studentin oder Student im jeweils anderen System gewesen – wie hätte das Ihre bisherige wissenschaftliche Laufbahn geprägt?

Claudia Noack: Ich hätte mir noch mehr andere Fächer angehört, um mich weiterzuentwickeln, denn dafür war einfach nicht viel Zeit. Gleichzeitig wäre ich vermutlich nicht auf so unkomplizierte Weise ins Ausland gegangen. Das wäre schade gewesen.

"Ich wäre vermutlich nicht auf so unkomplizierte Weise ins Ausland gegangen. Das wäre schade gewesen."

Claudia Noack

Volker Ladenthin: Meine Erfahrung im Studium war die, dass man lernte, sich zu organisieren. Das hat mir das ganze Leben lang geholfen, denn ich hatte gelernt, wie man sich selbst Druck macht. In einem Bachelor- und Masterstudium hätte ich das nach meinem Empfinden nicht so gut gelernt. 

F&L: Würden das Lehren und Prüfen, wie Sie es erlebt haben, noch in die heutige Zeit passen? 

Volker Ladenthin: Ich blicke nicht sehnsüchtig auf mein Studium zurück. Damals war es gut so, aber heute geht das nicht mehr. Das Studium ist stärker verrechtlicht; Lehre und Evaluation sind curricular gesteuert und dadurch effizienter. Ausbildungskosten müssen öffentlich verantwortet werden und für den Einzelnen finanzierbar sein. Allein die große Zahl der Absolventen muss verwaltet werden können. Gleichzeitig halte ich das System jetzt für überreguliert.

"Ich blicke nicht sehnsüchtig auf mein Studium zurück. Damals war es gut so, aber heute geht das nicht mehr."

Volker Ladenthin

F&L: Wie müsste die nächste Reform aussehen?

Claudia Noack: Man sollte den Eintritt ins Studium für junge Menschen aus bildungsfernen Elternhäusern viel einfacher machen, denn nach wie vor ist es für sie schwierig, an die Hochschulen zu kommen. Ich höre von Freundinnen und Freunden immer wieder, dass die akademische Welt für sie eine fremde Welt war, deren impliziten Regeln sie nicht beherrscht und sich dadurch ausgeschlossen gefühlt haben. 

Auch wäre es großartig, wenn das Studium weiterhin noch internationaler werden würde. Es wäre gut, wenn der Bachelor schon auf Englisch unterrichtet werden würde, da wir so noch mehr internationale Studierende gewinnen könnten. Die Hürde, ins Ausland zu gehen, würde weiter sinken.

Volker Ladenthin: Das Problem der Hürden zum Studium löst sich schon allein dadurch, dass wir durch den wachsenden Anteil von Abiturientinnen und Abiturienten immer mehr akademische Eltern haben werden. In Zukunft wird gesamtgesellschaftlich die Zahl der Eltern abnehmen, die keine Akademiker sind. Ich denke, dass es wichtiger ist, an der Universität Leistungsbereitschaft zu fordern, im Sinne von Klasse statt Masse. Es sollten diejenigen studieren, die leistungsorientiert und leistungsfähig sind. Vielleicht ist es sogar ein Teil dieser Leistungsfähigkeit, dass man sich selbst organisieren kann. Weg vom betreuten Studieren.

Wenn wir die Universitäten noch weiter für die Berufsausbildung nutzen, ist das nicht gut. Das Studium dadurch verbessern zu wollen, dass es fachlich immer breiter und immer pragmatischer wird, das halte ich für verhängnisvoll. Stattdessen sollte man sich wieder stärker auf die eigentlichen Forschungsaufgaben der Universität fokussieren.