Das Bild zeigt einen Bewerber bei einer Aufnahmeprüfung für eine japanische Universität.
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Japan
Lehr- und Lernkultur an Japans Universitäten

Stefan Keppler-Tasaki im Gespräch über die Hochschullandschaft Japans: Für das Studium an einer Forschungsuniversität sind hohe Hürden zu überwinden.

Von Vera Müller 01.07.2024

Forschung & Lehre: Japan gilt als Land der "Lernkultur", Lernen genießt dort hohes Ansehen. Was bedeutet das für die Hochschulbildung, für Ihre Arbeit in der Universität?

Stefan Keppler-Tasaki: Anekdotisch könnte man damit beginnen, dass die Lehrenden an japanischen Universitäten nicht als Professorin und Professor angesprochen werden, sondern als "Sensei", das heißt Lehrerin beziehungsweise Lehrer. Auf dieser Lehrerinnen- beziehungsweise Lehrerrolle liegt großes Gewicht. Es ist mit einem hochschuldidaktisch eher traditionellen, lehrerzentrierten Lernen verbunden. Die Studierenden erwarten, dass sie an meiner Wissensproduktion teilhaben, dass ich für die Sinnproduktion im Unterricht einstehe. Der Unterricht, ob als Seminar oder als Vorlesung angekündigt, tendiert zur Vorlesung. Aber diese Vorlesung muss das Wesen des Dialogs haben, in dem die Studierenden die Entwicklung eines Gedankens nachvollziehen können. Sie muss in sich diskursiv sein. Auch Referate-Unterricht wäre völlig inakzeptabel. 

Was die Rolle des einzelnen Lehrenden relativiert, sind vor allem die anderen Lehrenden. Die Studierenden vergleichen und evaluieren ihre Lehrenden durchaus mit einer gewissen Strenge. Ein erhöhter Anspruch der Studierenden resultiert auch aus den Studiengebühren von – im Fall der nationalen Universitäten – circa 4.000 Euro pro Jahr. Die Studierenden möchten herausgefordert werden und Augenöffnendes erfahren. Sie erwarten ein Wissen, das über die Lehrbücher hinausgeht.

F&L: Sie forschen und lehren an der Universität Tokio, eine der besten Universitäten Japans. Gehören im Studium Forschung und Lehre von Anfang an zusammen?

Das Porträtbild zeigt Professor Stefan Keppler-Tasaki.
Stefan Keppler-Tasaki ist Professor für moderne deutsche Literatur an der University of Tokyo. Janine Vleugel Naoi

Stefan Keppler-Tasaki: Das Bachelorstudium dauert bei uns vier Jahre. Die ersten zwei Jahre, eine College-Phase nach amerikanischem Vorbild, bestehen aus einem Studium generale. Erst im dritten Jahr entscheiden sich die Studierenden für ein Fach. 

Zu diesem Zeitpunkt findet häufig auch eine Forschungsspezialisierung statt. Die Studierenden entscheiden sich für ein Thema, das sie im vierten Jahr in der Bachelorarbeit behandeln wollen. Bei der Lehrplanung berücksichtigen wir diese Themen und greifen sie im Unterricht auf – daraus entsteht eine andere Unterrichtsqualität und eine im besten Sinn forschungsbasierte und forschungsorientierte Lehre. 

F&L: Wie viele Studierende betreuen Sie in Ihren Vorlesungen und Seminaren? 

Stefan Keppler-Tasaki: Auf eine Professorin bzw. einen Professor kommen zehn Studierende. Diese Betreuungsrelation bietet eine völlig andere Lehr-/Lernqualität und einen erfüllteren Umgang und Austausch mit den Studierenden als in Deutschland. Das japanische Hochschulsystem ist in sich sehr heterogen. Es besteht aus den gesamtstaatlichen Universitäten, den von Präfekturen und Kommunen getragenen Hochschulen und schließlich einer sehr großen Zahl von privaten Einrichtungen. Einerseits hat Japan insgesamt inzwischen zu viele Universitäten für die schrumpfende Gesellschaft, andererseits gibt es aber – gerade im Vergleich zu Deutschland – eher zu wenige gesamtstaatliche Universitäten, circa 80. Sie profitieren bisher vom Wettbewerb, können höhere Anforderungen bei den Aufnahmeprüfungen stellen und bekommen die besseren Studierenden. 

Im Übrigen sind auch ihre Studiengebühren deutlich geringer als die der privaten Hochschulen. Daher gilt bisher im Idealfall: Wer begabter ist, bezahlt weniger. Wir operieren also in einem System, in dem sich Spitzenuniversitäten Spitzenstudierende aussuchen und umgekehrt. Das sind elitäre Grundzüge, die uns in Deutschland nicht leicht vermittelbar sind. Diese elitären Elemente werden wieder erträglicher oder eingefangen dadurch, dass man in Japan ein Alltagsbewusstsein pflegt, wonach wir alle Mittelschicht sind, nach außen hält man trotz der gesellschaftlichen Unterschiede und der Einkommensunterschiede an einem gewissen Homogenitätsideal fest. Das spielt im japanischen Identitätsdiskurs und Selbstbild keine geringe Rolle. 

"Es gilt bisher im Idealfall: Wer begabter ist, bezahlt weniger."

F&L: Die Aufnahmeprüfungen für die Universitäten – insbesondere für die Spitzenuniversitäten – sind in Japan berühmt und berüchtigt. 

Stefan Keppler-Tasaki: Ja, ein starkes Strukturelement im japanischen Hochschulsystem sind die Eingangsprüfungen. Die Studierenden müssen sich bewerben und angenommen werden. Die Hürden sind dort je nach Universität unterschiedlich und im Spitzensegment sehr hoch. Highschool-Absolventinnen und -Absolventen benötigen ein Triple-A-Abitur, um überhaupt eine Chance zu haben. Das stellt ein Problem für die Bildungsgerechtigkeit dar. Es geht so weit, dass sich etwa ein Fünftel der Testteilnehmerinnen und -teilnehmer ein ganzes Jahr lang auf diese Aufnahmeprüfung vorbereitet. Wir haben hier also ein strukturelles Problem und Phänomen, eine Lücke zwischen Highschool-Abschluss und Studium an einer führenden Universität.

F&L: Die Kosten für diese Lücke müssen in der Regel von den Eltern übernommen werden.

Stefan Keppler-Tasaki: Richtig. Die Bildungsungerechtigkeit ergibt sich hier auch daraus, dass es für diese Phase der Vorbereitung auf die Aufnahmeprüfung keine Stipendien gibt. Ausschlaggebend ist das Elterneinkommen. Es ist oft auch eine Frage der Geschlechterungerechtigkeit: Der Frauenanteil bei den Bewerbungen beträgt für die führenden japanischen Forschungsuni­versitäten lediglich circa 20 Prozent. Das ist ein beschämender Zustand. Auch der Frauenanteil unter den Studierenden an den japanischen Spitzenuniversitäten beträgt nur etwa 20 Prozent.

F&L: Was sind die Gründe für den geringen Frauenanteil?

Stefan Keppler-Tasaki: Eltern stellen möglicherweise an ihre Töchter nicht dieselben hohen Erwartungen an eine berufliche Karriere, an Erfolg oder Ausnahmekarrieren wie an ihre Söhne. Es mag aber auch mit daran liegen, dass man bei diesem Vorbereitungsjahr weitgehend auf sich alleine gestellt ist. Man ist Einzelkämpfer, wir nennen das bezeichnenderweise auch den Ronin, den herrenlosen Samurai. Man befindet sich während dieser Zeit außerhalb größerer sozialer Strukturen, man ist nicht mehr an der Schule, aber auch noch nicht an der Universität. Sich diese Lücke im Lebenslauf zu erlauben, dieses Jahr alleine zu operieren, wird jungen Männern gesellschaftlich leichter gemacht als jungen Frauen.

F&L: Welche Rolle spielt an japanischen Universitäten die Lehre im Allgemeinen und die forschungsbasierte Lehre im Besonderen?

Stefan Keppler-Tasaki: Lehre genießt, vielleicht auch durch buddhistisch-konfuzianisch grundierte Wertsphären, in denen wir hier arbeiten, einen hohen Stellenwert.

Zugleich lehren wir aber auch nur acht Semesterwochenstunden an den Forschungsuniversitäten, das Gleiche an den führenden Privatuniversitäten. Die Wertschätzung der Lehre zeigt sich darin, dass in diesen acht Semesterwochenstunden der Anspruch an gute Lehre in der entsprechenden Qualität dieser Lehre erreicht wird. Die Wertschätzung der Lehre korrespondiert nicht unbedingt mit einem Mehr an mehr Lehre. 

Das gilt zumindest für die etwa 80 staatlichen Universitäten und für einige hoch gerankte Privatuniversitäten. An den Universitäten in kommunaler Trägerschaft und den meisten Privatuniversitäten ist eine forschungsorientierte Lehre eher nicht das Ziel. Ohnehin erfüllt die Studienzeit auch die Funktion eines Moratoriums in einer typischerweise sehr anforderungsreichen japanischen Schul- und Arbeitsbiografie. Ein Moratorium, in dem man erwachsen werden kann, in dem man sich breite Bildung aneignet und soziale Erfahrungen sammelt. 

F&L: Nach welchen Kriterien entscheiden junge Menschen in Japan, was sie studieren? Wie frei sind sie in der Wahl des Fachs?

Stefan Keppler-Tasaki: Bislang sehe ich große Entscheidungsfreiheiten bei den Studienanfängerinnen und -anfängern, welches Fach sie studieren wollen. Grundsätzlich hat die Wahl des Studienfachs wenig Bedeutung für den zukünftigen Beruf. Absolventinnen und Absolventen von Spitzenuniversitäten durchlaufen in Ministerien und großen Konzernen eine Trainee-Phase. Sie gilt in der japanischen Arbeitsbiografie als besondere Strapaze. Die Trainees werden auf die Ansprüche der jeweiligen Unternehmenskultur hin modelliert. Insofern haben wir im japanischen Hochschul- und Wirtschaftssystem eine geringere Pfadabhängigkeit zwischen der Studienfachwahl und dem späteren Arbeitsgebiet als in Deutschland. 

Ein großes Thema sind die Studienkredite, die die Studierenden aufnehmen. Da geht es bei den staatlichen Universitäten um etwa 4.000 Euro Studiengebühren pro Jahr, ein Bachelorabschluss kostet also etwa 16.000 Euro. Mit diesen Kreditschulden gehen viele Absolventinnen und Absolventen ins Arbeitsleben. Ich hoffe nicht, dass bei steigenden Studiengebühren Eltern ihre Kinder in Zukunft in vermeintliche Karrierefächer drängen.

"Grundsätzlich hat die Wahl des Studienfachs wenig Bedeutung für den zukünftigen Beruf."

F&L: Welche Gemeinsamkeiten zeigen sich beim Blick auf das japanische und deutsche Hochschulsystem?

Stefan Keppler-Tasaki: Ich sehe zwischen dem japanischen und dem deutschen Hochschulsystem Konvergenz dadurch, dass in beiden Ländern ein neoliberales Konzept von Universität wirkt. Anfang der 2000er Jahre tauchten hier wie dort dieselben Stichworte auf: Management, Quantifizierung, Konkurrenz, Exzellenz, sogar der "Cluster of Excellence". In unserem Universitätsmotto "Discover Excellence" spiegelt sich das wider. Zu diesen Faktoren gehört natürlich die Diskussion um Studiengebühren. Auch in der Verwaltungssprache sieht man auffällige Ähnlichkeiten. 

Die Akkreditierung kam in Deutschland mit dem Bologna-Prozess auf. Fast zum selben Zeitpunkt, nämlich 2002, wurde in Japan die Akkreditierung aller Universitäten alle sieben Jahre gesetzlich verankert. In diesem Verfahren werden allerdings nicht einzelne Studienprogramme, sondern Universitäten und Graduate Schools innerhalb einer Universität als Ganzes akkreditiert. Zum Verfahren gehören eine umfangreiche Selbstdokumentation und eine Begehung. Anders als in Deutschland wird die Akkreditierung nicht durch privatwirtschaftliche Agenturen durchgeführt, sondern durch Verbände wie die Japan University Accreditation Association, die von den Universitäten selbst getragen werden. Hinter gleichlautenden Schlagworten können sich also sehr unterschiedliche Praktiken verbergen. 

F&L: Auf Ihrer Homepage betonen Sie, dass Sie sich dem Humboldt’schen Modell der Einheit von Forschung und Lehre verpflichtet fühlen. Ist das eine Art Leitbild?

Stefan Keppler-Tasaki: Mission Statements abzugeben, gehört auch in Japan inzwischen zum akademischen Alltag. Die Marke bzw. Währung der Humboldt’schen Universität mit ihrer Einheit von Forschung und Lehre, mit ihrem Konzept von der Selbstaufklärung der Forschung in der Lehre, entspricht weitgehend meinem Leitbild. Diese Währung wird erkannt, sie hat Gültigkeit und Wert. Wenn wir sehen, was Deutschland im Zuge der Veränderung der globalen Ordnung noch zu bieten hat, dann bildet die Universität, die Wissenschaft, den harten Kern. 

"Ein Einblick in das japanische Hochschulsystem könnte für deutsche Kolleginnen und Kollegen sehr lohnend sein."

Fast möchte ich sagen, dass Japan inzwischen das Vorbild für das deutsche Humboldt’sche Ideal der Einheit von Forschung und Lehre bietet. Die deutschen Universitäten könnten auf diesem und anderen Gebieten von den japanischen lernen. Ein Einblick in das japanische Hochschulsystem könnte für deutsche Kolleginnen und Kollegen sehr lohnend sein. Gleichzeitig beobachte ich immer wieder, dass das japanische Hochschul- und Wissenschaftssystem in Deutschland ein zauberhaft positives Image hat. Nach meiner Einschätzung kann das auch kontraproduktiv sein, Japan als dieses Wunderland zu behandeln, das man von außen bestaunt, in dem man aber nicht wirklich tätig wird.

Japan – Schwerpunkt in "Forschung & Lehre"

Die Juli-Ausgabe von "Forschung & Lehre" widmet sich mit einem Themen-Schwerpunkt der Volkswirtschaft und Wissenschaftsnation Japan.

Die Beiträge:

  • Axel Karpenstein: Vision einer supersmarten Gesellschaft. Aufbruch im Land der aufgehenden Sonne? 
  • Im Gespräch mit Stefan Keppler-Tasaki: Zwischen elitären Grundzügen und einem Homogenitätsideal. Lehr- und Lernkultur an Japans Universitäten
  • David Chiavacci: Gesellschaftliche Wende? Arbeitsimmigration und Sozialvertrag in Japan 
  • Franz Waldenberger: Reiches Land – armer Staat. Japans Wirtschaft im Griff der Demografie
  • Verena Blechinger-Talcott: Militärisch aktivere Rolle. Wandel in Japans Außen- und Sicherheitspolitik

Hier geht es zur aktuellen Ausgabe – Reinlesen lohnt sich!