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Interdisziplinarität
"Eine gemeinsame Sprache finden"

Carolin Schneider verbindet Klinik und datenbasierte Forschung. Wie sie ihre Nische gefunden hat und was ihr bei der Nachwuchsförderung wichtig ist.

Von Henrike Schwab 03.06.2024

Forschung & Lehre: Frau Professorin Schneider, Sie sind mit dem "academics"-Nachwuchspreis 2023 für exzellente junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ausgezeichnet worden. Dafür sind Sie offenbar die Idealbesetzung, schließlich sind Sie mit gerade einmal 28 Jahren Juniorprofessorin und approbierte Ärztin an der Uniklinik der RWTH Aachen. Das US-Wirtschaftsmagazin "Forbes" hat Sie jüngst in die Liste der 30 wichtigsten Persönlichkeiten unter 30 Jahren für "Science and Healthcare" in Europa aufgenommen. War der Weg in die Wissenschaft für Sie vorgezeichnet?

Carolin Schneider: Das Interesse an der Wissenschaft war tatsächlich schon immer da: Dass das Beantworten von Fragen mir große Freude macht, habe ich schon bei Schulprojekten wie "Jugend forscht" bemerkt. Auch das Fach Medizin stand schon relativ früh fest. Darüber nachgedacht, in welche Richtung es gehen könnte, habe ich aber erst im Rahmen der Doktorarbeit. Ich war dann an einer klinischen Studie beteiligt, bei der wir Patientinnen und Patienten mit einer genetischen Risikovariante in ganz Deutschland untersucht haben, um herauszufinden, wie sich diese Genvariante auf die Leber auswirkt. Während die Datenauswertung bei solchen Studien normalerweise eher unbeliebt ist, ging das Interesse bei mir über das geforderte Maß hinaus: Ich fand es spannend zu erfahren, welche Analysemethoden es gibt, wann man etwas als signifikant einstuft, und wie daraus Empfehlungen für den klinischen Alltag abgeleitet werden. 

"Eigentlich habe ich immer nur das weiterverfolgt, was mir große Freude gemacht hat."

Also habe ich die Chance genutzt, während meines Postdocs an der University of Pennsylvania noch tiefer in die Forschung einzusteigen. Wegen der Corona-Pandemie konnte der klinische Teil der geplanten Studie nicht stattfinden, sodass der Fokus auf der Biostatistik lag. Diese Umstände haben mir die Flexibilität und Freiheit gegeben, mich mit Themen zu beschäftigen, die außerhalb dessen liegen, was man im Medizinstudium lernt: Wie funktioniert eigentlich Künstliche Intelligenz? Wie baue ich einen Algorithmus? Mit solchen Fragen ist man an einer der Ivy-League-Universitäten natürlich genau am richtigen Ort. So hat sich also der nächste Schritt immer aus dem vorherigen ergeben, und eigentlich habe ich immer nur das weiterverfolgt, was mir große Freude gemacht hat.

Porträtbild von Schneider: eine junge Frau mit langem blonden Haar, Brille und rotem Jacket
Carolin Schneider leitet die Arbeitsgruppe für Prävention und Genetik von metabolischen Erkrankungen der Leber an der Uniklinik der RWTH Aachen. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste | Bettina Engel-Albustin 2022

F&L: Gab es berufliche Ereignisse, die für Sie besonders prägend waren?

Carolin Schneider: Besonders prägend war natürlich der erste Patientenkontakt: die Fragestellungen direkt aus der Sprechstunde mitzunehmen und zu sehen, wem die Forschungsergebnisse nachher zugutekommen. Prägend war es auch, zum ersten Mal eine Leitungsfunktion zu übernehmen: Ich durfte schon im Postdoc Doktorandinnen betreuen. 

Diese Verantwortung hat mich zuerst einige schlaflose Nächte gekostet. Jetzt wird eine von meinen Doktorandinnen als Postdoc weitermachen und ihre eigene Subgruppe in meiner Gruppe aufbauen. Die Nachwuchsförderung ist etwas, worauf ich aktuell besonders stolz bin: dass man auf jeder Ebene Forschende weiterbringen kann.

F&L: Ihre Doppelrolle als Forscherin und Ärztin ist Ihnen sehr wichtig, betonen Sie. Warum ist das so?

Carolin Schneider: Ich sehe mich in der Rolle derjenigen, die die Fragen, die den Patientinnen und Patienten auf dem Herzen brennen, in die Forschung hineinträgt. Ich glaube, meine Arbeitsgruppe hat da eine gute Nische gefunden, weil wir Fragestellungen auswählen, die relevant sind, und auf Umsetzbarkeit für Patientinnen und Patienten achten. 

Diese Doppelrolle macht mir sehr viel Spaß, auch wenn die Doppelbelastung aus Klinik und Forschung natürlich kein Spaziergang ist – im Prinzip sind das ja zwei Vollzeitjobs. Aber wenn man etwas gefunden hat, das Einzug in die Patientenversorgung hält, dann macht das unendlich glücklich und wiegt die vielen Stunden Arbeit wieder auf.

F&L: Was ist mit Umsetzbarkeit für die Patientinnen und Patienten gemeint?

Carolin Schneider: Unsere Forschung geht in Richtung Personalisierung, also konkrete Empfehlungen für einen Menschen aufgrund von genetischen Faktoren, Lebensstil, Ernährungsweise, Sport. Ich forsche viel zur Fettleber, die lange unterschätzt wurde. Heute wissen wir, dass die Leber die Schaltzentrale vom Stoffwechsel ist und dass die Fettablagerung in der Leber zu vielfältigen Erkrankungen führen kann. Was Fettleber-Patienten sehr oft hören, ist: "Ja, dann nehmen Sie doch ab." Das ist aber schwer umzusetzen. 

Was wir stattdessen anbieten, sind konkrete Handlungsanweisungen, zum Beispiel: ein 45-Minuten-Spaziergang dreimal die Woche. Und diese Empfehlungen sollen in den nächsten Jahren noch spezialisierter werden, sodass wir dann sagen können: Für Frauen Mitte 40 mit einem bestimmten Risikofaktor empfehlen wir einen Spaziergang von x Minuten. Was ist also der kleinstmögliche Schritt, den man gehen kann, der den größtmöglichen Effekt auf die Prävention von Lebererkrankungen und anderen metabolischen Erkrankungen haben kann? Wir wissen, dass metabolische Erkrankungen das Risiko von Krebserkrankungen erhöhen, sodass wir durch die Prävention vielleicht entsprechende "metabolische Hebel umschalten" können.

"Unsere Vision ist es, aus jedem Teil der Welt einen Datensatz vorliegen zu haben."

F&L: Bei Ihrer Forschung verfolgen Sie einen dezidiert interdisziplinären Ansatz. Können Sie uns näher schildern, wie Sie arbeiten? 

Carolin Schneider: Unsere Gruppe war eine der ersten, die die patientenorientierte Verknüpfung von Daten, Wissenschaft und Lebenswissenschaft vorangebracht hat. Wir arbeiten datenbasiert, das heißt, wir sammeln und strukturieren so viele Daten wie möglich. Dafür sind wir in Kontakt mit vielen Konsortien weltweit, die Daten über eine bestimmte Population an Menschen bereitstellen. Unsere Vision ist es, aus jedem Teil der Welt einen Datensatz vorliegen zu haben, sodass man überprüfen kann, ob ein universelles Prinzip gefunden wurde oder nur ein gruppenspezifisches.

Was wir uns wünschen würden, wären mehr Daten aus Deutschland selbst – das ist etwas, das uns aktuell einschränkt. Insofern unterstützen wir das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das uns ermöglichen würde zu testen, ob sich unsere Befunde auf die deutsche Bevölkerung übertragen lassen oder ob die Bewegung oder die Esskultur in Deutschland vielleicht sogar so spezialisiert ist, dass man es auf einzelne Bundesländer herunterbrechen muss. Solche Fragen hoffen wir in den nächsten Jahren beantworten zu können.

Für die Analyse der Daten und der zugrunde liegenden Muster nutzen wir sowohl Methoden der Biostatistik als auch zunehmend Methoden der Künstlichen Intelligenz. Was sich dabei eher zufällig entwickelt hat und wovon ich sehr profitiert habe, ist die Interdisziplinarität: Der erste Postdoc, den ich eingestellt habe, war ein Astrophysiker. Auf den ersten Blick passt das vielleicht nicht ganz so gut zusammen. Wenn man aber versucht, eine gemeinsame Sprache innerhalb einer Gruppe zu finden, dann bringt das wirklich alle nach vorne. Das hat sich weiter durchgezogen: Wir haben Informatiker, Ingenieure und natürlich Mediziner und Medizinerinnen in der Gruppe oder kollaborieren mit ihnen. Es ist uns sehr wichtig, technische Aspekte mit medizinisch relevanten Fragestellungen zu verknüpfen. Die Entwicklung einer Methodik, an der die unterschiedlichsten Bereiche mitgewirkt haben, macht das Ganze so interessant und auch sehr zukunftsträchtig.

F&L: Hochschulkarrieren werden augenscheinlich immer unattraktiver. Nach dem jüngsten "Barometer für die Wissenschaft" streben nur noch 16 Prozent der Promovierenden eine Professur an. Können Sie das nachvollziehen?

Carolin Schneider: Ich bin wirklich zufrieden mit meiner Stelle und sehr glücklich, dass ich den Weg in die Hochschulforschung gefunden habe. Es ist aber wichtig, dass junge Medizinstudierende sichtbare Beispiele haben, wie ein Weg in die Forschung aussehen könnte, und dass es sich lohnt, eine gute Doktorarbeit zu beginnen und sich diese Tür nicht zu verschließen. Deswegen habe ich im letzten Jahr beschlossen, meine Erfahrungen verstärkt zu teilen, obwohl ich mich lange schwer mit der Sichtbarkeit in den sozialen Medien getan habe. 

F&L: Sie halten die Unikarriere also nach wie vor für einen erstrebenswerten Weg, den Sie aktiv bewerben? 

Carolin Schneider: Auf jeden Fall. Ich versuche, meine Doktorandinnen und Doktoranden für die Idee zu begeistern, nach der Doktorarbeit weiterzumachen und einfach einmal auszuprobieren: Könnte das etwas für mich sein? Möchte ich mir Projekte ausdenken, Geld einwerben, jemanden betreuen? Denn auch wenn man diesen Weg nicht weiterverfolgen möchte, sind das doch wertvolle Skills für den Arbeitsmarkt. Gerade auch der Skill der Resilienz kann sehr, sehr gut in der akademischen Welt erlernt werden – vielleicht besser als sonst irgendwo. 

F&L: Eines der zentralen Probleme für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist die mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Muss die Wissenschaft flexibler werden?

Carolin Schneider: Unter Arbeitsgruppenleitern auf meiner Ebene besteht ein klarer Konsens, dass Familienfreundlichkeit und Work-Life-Balance gegeben sein müssen. Gerade die Generation, die jetzt nach mir kommt, fordert eine größere Vereinbarkeit auch ein. Datenwissenschaftliche Arbeiten sind da natürlich von Vorteil, weil wir – gerade auch für Mitarbeitende mit Kindern – Homeoffice ermöglichen und flexible Arbeitszeiten anbieten können. Außerdem versuchen wir, Termine zu familienfreundlichen Zeiten anzusetzen. Das ist auch für diejenigen wichtig, die den Spagat zwischen Klinik und Forschung machen.

Solche Lösungen müssen möglich sein, denn ansonsten kann die Wissenschaft nicht attraktiv bleiben. Wenn man in der Industrie so viel mehr Geld verdienen kann, dann muss die Wissenschaft eine umso bessere Gruppendynamik bieten, einen Arbeitsplatz, zu dem man gerne kommt, wo auch Rücksicht auf das Privatleben genommen wird. Diese Einstellung wird sich durchsetzen, da bin ich sehr optimistisch.

"Unter Arbeitsgruppenleitern auf meiner Ebene besteht ein klarer Konsens, dass Familienfreundlichkeit und Work-Life-Balance gegeben sein müssen."

F&L: Sie haben ein Dutzend Mitarbeitende, also jede Menge Personalverantwortung. Wie wächst man in diese Rolle hinein?

Carolin Schneider: Ich habe schnell feststellen müssen, dass das Medizinstudium nicht optimal auf eine Leitungsposition vorbereitet. Es gibt an vielen Universitäten aber wirklich gute Kurse zu Leadership und Management. Ich beschreibe es gerne als Start-up-Gefühl – ohne entsprechende eigene Erfahrungen natürlich, aber so stelle ich es mir vor: Man hat sehr schnell sehr viel Personalverantwortung. Die Uni hat mir dafür professionelle Hilfe zur Seite gestellt. Und dann habe ich noch eine externe Mentorin, die mich bei den ersten Schritten beraten hat und mir bei den ersten Konflikten zur Seite gestanden hat. Außerdem bin ich gut vernetzt mit anderen auf der gleichen Karriereebene.

F&L: Wie organisieren Sie Ihre Arbeitsgruppe? Gibt es zum Beispiel Impulse, die Sie aus Ihrer Zeit aus Amerika mitgenommen haben?

Carolin Schneider: Die wissenschaftliche Ausbildung in den USA ist sehr strukturiert, es werden zum Beispiel vorab feste Lernziele vereinbart. Solche strukturierten Feedback-Gespräche haben sich auch in meiner Gruppe sehr bewährt. Neben den wöchentlichen Fortschrittsmeetings gibt es auch immer wieder Gelegenheit, über mögliche Erweiterungen des Projekts zu sprechen. 

Wir hatten zum Beispiel eine Doktorandin, die sich mit geschlechtersensibler Medizin beschäftigen wollte: Also haben wir die Wirkung eines bestimmten Medikaments auf Frauen und Männer untersucht und herausgefunden, dass die beobachteten Effekte nur auf die Gruppe der Männer zutrafen. Dieser interessante Aspekt hat sich also nur durch den Vorschlag der Doktorandin ergeben. Für die Umsetzung eigener Ideen bin ich immer offen, schließlich ist das der erste Schritt, um später eigenes Funding einzuwerben.

"Für die Umsetzung eigener Ideen bin ich immer offen, schließlich ist das der erste Schritt, um später eigenes Funding einzuwerben."

F&L: Was ist Ihnen vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Erfahrungen bei der Entwicklung Ihrer Doktorandinnen und Doktoranden noch wichtig? 

Carolin Schneider: Ein gutes Mentoring ist ein zentraler Faktor – gerade wenn man in der akademischen Welt bleiben möchte. Davon habe ich auf jedem Karriereschritt sehr profitiert. Außerdem sollten Doktorandinnen und Doktoranden auch gut "platziert" werden. Es sollte ihnen frühzeitig ermöglicht werden, zu Konferenzen zu fahren und mit anderen motivierten Forschenden zu sprechen. Solche Events haben mich als Studentin schon sehr früh begeistert. Das hilft auch über Durststrecken hinweg.

F&L: Mit Rückblick auf Ihren eigenen Weg: Welchen Rat würden Sie Nachwuchswissenschaftlerinnen und –wissenschaftlern geben?

Carolin Schneider: Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich mit der Leber beschäftigen würde. Ich hätte auch nicht gedacht, dass mir Biostatistik oder große Daten Freude machen. Man sollte also möglichst viel ausprobieren und in sich hineinhören, wo das Herz ein kleines bisschen höher schlägt. Und ich bin davon überzeugt, dass man Chancen, die sich ergeben, auch ergreifen sollte. Diese Chancen versetzen einen oft erst in den Zustand, in dem dann wieder neue Chancen auftreten. Also: Chancen wahrnehmen – das ist etwas, das mir ganz wichtig ist.