1 Leiden als Ausgangspunkt von Kritik

Im analysierten Datenmaterial werden die psychischen Gesundheitsprobleme von Beschäftigten kaum zum Anlass genommen, Arbeitsbedingungen offen und kritisch zu hinterfragen. Dabei enthält eine psychisch bedingte Einschränkung des Arbeitsvermögens Ansatzpunkte, die eigene Arbeitssituation in Frage zu stellen. Als stigmatisierte Krankheiten, die für die Betroffenen mit Scham verbunden sein können, lassen sich psychische Erkrankungen mit dem Konzept der existenziellen Prüfung von Boltanski (2010) verstehen:

Existenzielle Prüfungen gründen in Erfahrungen wie Ungerechtigkeit oder Beschämung […]. Freilich sind diese Erfahrungen nur schwer zu formulieren oder zu thematisieren: weil das vorgängige Format fehlt, in dem sie Gestalt gewinnen, oder weil sie aus dem Blickwinkel der bestehenden Ordnung einen abwegigen Charakter besitzen. (Boltanski 2010, S. 161)

Das Konzept der existenziellen Prüfung lässt sich insbesondere mit den Erfahrungen derjenigen Betroffenen des Samples verbinden, die ihre psychischen Probleme in den Kontext erfahrenen Unrechts im Betrieb stellen, wie Bernhard Aebischer (Fallbeispiel 8.1) oder Thomas Sommer (Abschn. 9.1.3). Beide formulieren ausgehend von ihren Erfahrungen Kritik an ihren Arbeitgeberinnen und den ihnen auferlegten Arbeitsbedingungen. Die Erfahrung einer existenziellen Prüfung führt die Betroffenen nach Boltanski an den Rand der bestehenden Ordnung und der durch sie instituierten Realität und eröffnet gerade deshalb einen Weg zu einer alternativen Realitätskonstruktion, weshalb sie zum Ausgangspunkt einer radikalen Kritik werden können. Boltanski und Thévenot (2007, S. 300 ff.) unterscheiden eine mildere Form der Kritik, welche die Durchführung einer Prüfung nach bestimmten allgemein anerkannten Prinzipien als falsch enthüllt, von einer radikaleren Kritik, die die Prüfung selbst als unangemessen darstellt. Eine radikale Kritik deckt Uneinigkeit auf bezüglich der

Identifizierung der relevanten wie der bedeutungslosen Wesen, und damit hinsichtlich der wahren Natur der Situation, der Wirklichkeit und des Gemeinwohls, auf die sich im Bemühen um Einigung Bezug nehmen lässt. […] Dahinter steht die Absicht, die Angelegenheit auf ihr eigentliches Gebiet zu verlagern und eine andere Prüfung einzurichten, die in der alternativen Welt als gültig angesehen wird (Boltanski und Thévenot 2007, S. 300, Hervorhebung i. O.).

Stefanie Graefe (2015, S. 14 ff.) argumentiert am Beispiel des Burnout-Syndroms, dass Erschöpfung als „eigensinnige Problematisierung“ bzw. als „kritische Praxis“ verstanden werden kann, die es in der heutigen Gesellschaft ermöglicht das Leiden an Arbeitsbedingungen überhaupt auszudrücken:

Ganz offenkundig äußert sich individuelles Leiden an der Arbeit und an unbefriedigenden Reproduktionsbedingungen gegenwärtig subjektiv in breitem Ausmaß in psychischen Erschöpfungssymptomatiken und wird auf diese Weise für die Betroffenen wie in der Gesellschaft sprechbar und plausibel. (ebd., S. 15, Hervorhebung i. O.)

Anhand von Interviews mit Burnout-Betroffenen stellt sie fest, dass die (therapeutische) Auseinandersetzung mit der eigenen „Erschöpfungskrise“ Möglichkeiten eröffnet, sich von Arbeitsroutinen und -bedingungen kritisch abzugrenzen. Da Erschöpfung, wie Graefe betont, in den meisten Fällen eine „eminent leibliche“ Dimension besitzt und von den Betroffenen erst durch (biografische) Deutungsarbeit zur sinnvollen Erfahrung werden kann (vgl. Kap. 5), wird eine solche Kritik erst im Zuge einer aktiven Auseinandersetzung formulierbar.

Das Thematisieren der eigenen Erschöpfung kann insofern als zeitgem��ße Form eines Arbeitskampfs gesehen werden (Graefe 2019). Auch Mathias Heiden (2014) stellt eine qualitative Veränderung von Arbeitskämpfen fest: Anstelle kollektiver Formen der Austragung dominieren ihm zufolge heute alltägliche, individuelle Arbeitskonflikte. Der „Widerspruch zwischen Verwertung und Reproduktion“ bzw. Kapital und Arbeit wird, so Regina Brunnett (2018, S. 333), vermehrt im Subjekt selbst ausgetragen. Ob die Betroffenen ihre Erschöpfung tatsächlich für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen nutzen können, hängt von den ihnen verfügbaren „Kritikroutinen“ ab, etwa ob sie über ihre Rechte informiert sind und wissen, bei welchen Stellen (z. B. Gewerkschaften) sie ihre Kritik anbringen können (Graefe 2015, S. 18). Allerdings bleibt die Kritik der Betroffenen nach Graefe oft auf einer individuellen Ebene stehen und setzt am Verhalten von Vorgesetzten an, anstatt strukturelle Bedingungen zu hinterfragen.

Im Datenmaterial der vorliegenden Studie wird psychisches Leiden in wenigen Fällen zum Ausgangspunkt einer expliziten Kritik an den Arbeitsbedingungen genommen. Ihr Erfolg hängt wesentlich von den Bedingungen der Situation ab, wie ich im Folgenden zeige. Eine radikale Kritik äußert Bernhard Aebischer (Fallbeispiel 8.1): Als seine Vorgesetzten ankündigen, dass sie aufgrund seiner mangelnden Leistungen ein Disziplinarverfahren durchführen wollen, wendet er ein, dass diese Maßnahme angesichts seiner „Überforderung“ nicht zielführend sein könne. Er bringt Elemente ins Spiel, die anderen „Welten“ zuzuordnen sind: seine angeschlagene mentale Verfassung, wie auch die Unmenschlichkeit der geplanten Maßnahme. Er postuliert damit eine andere „Natur“ der Situation: Es geht nicht um sein Leistungsversagen, sondern um seine Gesundheit und gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen. Damit weist er die Prüfung (Erreichen von Leistungszielen) insgesamt zurück.

Bernhard Aebischers Äußerung wird durch seine Vorgesetzten als Offenlegung einer psychischen Krise und nicht als Kritik an den Arbeitsbedingungen im Versicherungsaußendienst aufgegriffen. Bernhard Aebischer will mit seiner Überforderung aber nicht nur auf sein individuelles Gesundheitsproblem hinweisen, sondern auf die problematischen Veränderungen der Arbeitsanforderungen im Job der Kundenberater im Allgemeinen. So ist der Zeitdruck in den letzten Jahren erheblich gestiegen, womit vor allem ältere Kundenberater mit längerer Betriebszugehörigkeit unzufrieden sind. Die zunehmend komplexen Computerapplikationen, die Kundenberater beherrschen müssen, überfordern zudem vor allem ältere Mitarbeiter, die schon lange für das Unternehmen arbeiten. Im Interview führt er aus:

es ist früher EINFACHER gewesen. ... Und in den letzten vier fünf Jahren ist so viel umgebaut worden, darum haben ... mehrheitlich wie gesagt, … in unserem Alter, mit dieser Anstellungszeit am meisten Probleme heute.

Für die Kritik an belastenden Arbeitsbedingungen gibt es eine zuständige Stelle in Bernhard Aebischers Unternehmen. Diese scheint aber für die Beschäftigen keine verlässlichen „Kritikroutinen“ (Graefe 2015) zu ermöglichen. Gemäß dem „Recht auf Mitsprache“ haben Beschäftigte das Anrecht auf Anhörung zu Fragen des Gesundheitsschutzes, der Arbeitssicherheit und der Organisation der Arbeitszeit. Für Arbeitgeber besteht diesbezüglich eine Begründungspflicht gegenüber ihren Mitarbeitenden.Footnote 1 In größeren Unternehmen übernimmt die so genannte Mitarbeitervertretung diese Funktion. Über eine solche verfügt auch die Komfortia. Bernhard Aebischer entscheidet sich jedoch bewusst dagegen, mit seiner Kritik zur Mitarbeitervertretung zu gehen, weil das nach seiner Meinung wirkungslos oder sogar kontraproduktiv ist. Er geht davon aus, dass „solche Fälle nie gut herauskommen“.

Die Einordnung als Fall mit Gesundheitsproblemen durch die Vorgesetzten erfolgte, weil Bernhard Aebischer die Auswirkungen der Arbeitsbedingungen auf seinen persönlichen mentalen Zustand in den Vordergrund stellte. Zudem erlaubt das Vorhandensein eines BGM, vermutete Gesundheitsprobleme von Beschäftigten unternehmensintern durch eine spezielle Fachstelle zu thematisieren. Der Deutungsrahmen des Gesundheitsproblems wird dadurch gestärkt. Die BGM-Leiterin der Komfortia äußert sich folgendermaßen über die Arbeitsteilung mit der Mitarbeitervertretung:

Dort gehen jeweils mehr Mitarbeiter hin vielleicht so mit dem Arbeitsvertrag oder bei Kündigungen, oder wenn sich jetzt jemand, Mobbing oder so, das sind mehr so, das ist dann ganz witzig, die gehen dann wirklich so zur Mitarbeitervertretung und bei uns kommen sie irgendwie mit so anderen Problemstellungen. Also es kommen AUCH, aber wir haben wenig solche Fälle.

Nach ihrer Beschreibung gehen Beschäftigte mit durchaus unterschiedlichen Anliegen zu den Stellen. Dass sie dies als „witzig“ empfindet, erstaunt auf den ersten Blick, weil die beschriebenen Themen wie Arbeitsvertrag, Kündigung und Mobbing eigentlich gut zum Zuständigkeitsbereich der Mitarbeitervertretung passen. Angesichts seiner breiten Ausrichtung auf alle Arten von Problemen von Mitarbeitenden (vgl. Abschn. 8.2.2) versteht sich das BGM aber prinzipiell auch als zuständig für die genannten Themen und berät auch solche Mitarbeitenden, wenn auch seltener.

Die breite Ausrichtung des BGM führt dazu, dass die Interpretationsfolie des Gesundheitsproblems im Unternehmen ausgeweitet wird und auch bei Fällen zur Anwendung kommt, die man als Arbeitskonflikte beschreiben könnte. Da die BGM-Begleitung tendenziell eine individualisierende Betrachtungsweise auf Beschäftigte einnimmt (Voswinkel 2017c, S. 291), ist zu vermuten, dass sie auch zu einer Individualisierung von Arbeitskonflikten beiträgt. Eine Tendenz zur Individualisierung von arbeitsbedingten Problematiken stellen auch Daniel Nyberg und Christian De Cock (2019) in ihrer Untersuchung von Standortgesprächen mit krankgeschriebenen Arbeitnehmenden in Schweden fest. Wenn Beschäftigte in diesen Gesprächen Kritik an Arbeitsbedingungen äußern, bleibt diese meist folgenlos, weil die Arbeitsorganisation von den beteiligten Akteurinnen als unveränderbar wahrgenommen wird. Das BGM in den untersuchten Unternehmen verfügt außerdem über keinerlei Instrumente, die es erlauben würden, eine solche Kritik aufzunehmen und weiterzugeben. Stattdessen unterstützt es die Beschäftigten bei der Anpassung an die bestehenden Strukturen, was sich im Beispiel Bernhard Aebischers in der Finanzierung eines Resilienztrainings zeigt.

Psychische Erkrankungen können nicht nur für Beschäftigte, sondern auch für Vorgesetzte zum Anlass werden, Kritik an der Arbeitsorganisation zu üben. Dies kommt in zwei Fällen des Samples vor. Beide lassen sich als „milde“ Formen der Kritik einstufen: Die grundlegenden Prinzipien der Beurteilung der Situation werden nicht in Frage gestellt, sondern es wird lediglich eine Korrektur ihrer Anwendung eingefordert. Ob diese Kritik Erfolg hat, hängt wiederum von der Ausstattung der Situation ab, in der sie geäußert wird. Yves Meier, der Vorgesetzte von Simon Rohner (Fallbeispiel 5.1) nimmt dessen Erschöpfungsdepression zum Anlass, beim Management eine personelle Verstärkung für das Team zu beantragen. Diesem Antrag wird aber nicht stattgegeben. Yves Meier führt dies auf die Unsichtbarkeit der „Wissensarbeit“ im IT-Bereich zurück:

Und es ist glaub allgemein, also in der WISSENSarbeit ist es ein großes Problem, wie macht man überhaupt die Arbeit transparent, die man leistet. WIE zeigt man das AUF. Wie kann man sagen, man ist überlastet oder man ist unterlastet. Und das ist in der Wissensarbeit RECHT schwierig. Wir probieren jetzt das möglichst zu visualisieren, nutzen auch Kanban-Methodik und Tools, wo man einfach ganz strikt mit Aufträgen arbeitet, wo man dann auch, den Auftrag hat man, da hat man so viele Stunden gebraucht und dann ist das auch visualisiert und dokumentiert.

Um in Zukunft die Überlastung seines Teams besser belegen zu können, führt er als Teamleiter ein neues System zur Visualisierung von Arbeitsaufwand und Auslastung ein. Dies lässt sich als Versuch analysieren, durch eine Investition in die Infrastruktur die Bedingungen für das Anbringen von Kritik an den unrealistischen Leistungsvorgaben zu verbessern.

Im zweiten Beispiel ist der Vorgesetzte mit seiner Kritik erfolgreicher: Leo Alder übernimmt eine neu gebildete Organisationseinheit von spezialisierten Kundenberatern im Versicherungsaußendienst. Nach einem Jahr fällt Valentin Reimann, ein Mitarbeiter, offiziell wegen eines Hörsturzes, inoffiziell wegen einer psychischen Überlastung, für ein paar Wochen aus. Wie Leo Alder berichtet, hat dieser Mitarbeiter als Einziger seines Teams die ehrgeizigen Leistungsvorgaben der Organisationseinheit erreicht. Weil es sich um eine neu geschaffene Organisationseinheit handelt, sind die Leistungsstandards noch verhandelbar. Das höhere Management verweist auf Valentin Reimann als Beispiel dafür, dass die ehrgeizigen Leistungsziele erreichbar seien. Der Vorgesetzte Leo Alder äußert sich über den Fall:

Und er ist oft als Beispiel … zitiert worden, um zu sagen, ja aber DER hat ja diese Termine, DER MACHT ja, der IST ja unterwegs, der HAT das Quantum, das man sich vorstellt, das eigentlich alle anderen auch haben sollten. ... Also immer als SEHR gutes Beispiel. Aufgrund der Anzahl Termine, was automatisch auch Umsatz generiert hat. Also Kontakte gleich Kontrakte. Das ist einfach so. Und ich habe am Anfang gesagt, ja, das ist so. Mit der Zeit habe ich gesagt, ja ABER. Und am Ende konnte ich sagen, nein, weil der gesundheitliche Schaden ist es nicht wert. Also, nehmt ihn nicht als Maßstab, sonst habt ihr dann jeden Mitarbeiter in dem Stadium, in dem wir ihn jetzt begleiten müssen, und das kann ja nicht das Ziel sein. Also hört auf, mit dem Takt, den ihr messt, ihn als gutes Beispiel zu nehmen. Weil das hat Opportunitätskosten gehabt. Und zwar große.

Die gesundheitlichen Beschwerden des Mitarbeiters Valentin Reimann liefern Leo Alder das Argument, die Leistungsvorgaben, die er anfänglich selbst unterstützte, als falsch zu kritisieren. Er verweist dabei auf den resultierenden „gesundheitlichen Schaden“ und die „Opportunitätskosten“ der vom Management vertretenen Leistungsziele. Damit stützt er sich auf das Argument einer nachhaltigen Nutzung der Arbeitskraft. Er stellt somit die Betrachtung der Situation unter dem Gesichtspunkt der Produktivität nicht grundlegend in Frage, weshalb es sich um eine milde Form der Kritik handelt.

Leo Alders Argumentation im Interview lässt erkennen, dass er darauf bedacht ist, die Überlastung Valentin Reimanns nicht auf dessen persönlichen Eigenschaften oder seine Situation im Privatleben zurückzuführen. Im Interview merkt er an, dass dieser Fall für ihn „nur am Rande“ mit einer psychischen Krankheit zu tun hatte. Entsprechend hat er ihm geraten, in der Darstellung seines Falls auf gewisse Details, die zu seiner Überlastung beitrugen, zu verzichten:

Das ist zum Beispiel die ganze gesundheitliche Geschichte mit den Schlafproblemen, er hat auch in der Familie ein Kind, das einen Zustand hat, der das Ganze=aber das ist immer privat und Beruf, das meistens zusammenkommt mit solchen Sachen, und er hat mit einem Kind auch seit längerer Zeit ... gewisse Sachen, die dem Ganzen sicher auch, was das Ganze noch erschwert hat und so, ... und das sind solche Sachen, wo ich ihm gesagt habe, das bräuchte es eigentlich so nicht. Weil man kann diese Begründung sehr gut abgeben aufgrund vom Takt, den er gehabt hat, beruflich, aufgrund vom gesundheitlichen Hörsturz, den er gehabt hat, von den weiten Wegen, die er gehabt hat, Zusatzverantwortung, die er übernommen hat, das allein hat eigentlich gereicht für das Verständnis von seiner Situation.

Schlafprobleme oder Sorgen um ein Kind als zusätzliche Erklärungen für die Überlastung hätten der Argumentation nach der Ansicht Leo Alders Schlagkraft entzogen, dass die Arbeitsanforderungen die Überlastung herbeigeführt haben. Zudem erscheinen sie im Vergleich zu einem Hörsturz als weniger legitime Ursachen für eine Erschöpfung. In der Betonung der Arbeitsanforderungen zeigt sich eine Umkehrung der in Abschn. 6.2 festgestellten Auslagerung von Krankheitsursachen ins Private. Wenn es darum geht, Arbeitsbedingungen zu kritisieren, sind Hinweise auf „private“ Ursachen für psychische Gesundheitsprobleme der Argumentation abträglich.

Dass es möglich ist, in dieser Situation Kritik an den Leistungsvorgaben anzubringen, hängt zum einen damit zusammen, dass diese abgesehen vom betroffenen Beschäftigten von niemandem im Team erreicht werden. Zum anderen ist die Aushandlung der Leistungsstandards in der neu geschaffenen Organisationseinheit noch nicht abgeschlossen. Dieses Beispiel ist als Ausnahme anzusehen. In den untersuchten Unternehmen scheint es im Allgemeinen wenig Ansatzpunkte zu geben, Kritik an den Arbeitsbedingungen, die durch einzelne Beschäftigte oder Vorgesetzte vorgebracht wird, aufzugreifen. In den zwei Fällen das Samples, in denen die Beschäftigten die Arbeitsbedingungen und das Management kritisieren, führt dies zu einem mehr oder weniger offen ausgetragenen Konflikt, zu dessen Bewältigung die involvierten Vorgesetzten auf das Instrument des Disziplinarverfahrens zurückgreifen.

2 Die Marginalität der staatsbürgerlichen Konvention

Die Kritik an gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitsbedingungen verweist auf die Themen des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit. Als Anrechte einer kollektiven Arbeitnehmerschaft lassen sich diese der staatsbürgerlichen Konvention zuordnen, in der Personen und Objekten Größe zukommt, insofern sie Kollektivinteressen anstelle von Partikularinteressen vertreten:

In der staatsbürgerlichen Welt gelangt man zu Größe, indem man die partikularen und unmittelbaren Interessen aufgibt, über sich selbst hinauswächst und die „eigenen Interessenlagen den kollektiven hintenanstellt“. (Boltanski und Thévenot 2007, Hervorhebung i. O., S. 260)

In den Rechtfertigungen von Wiedereingliederungsmaßnahmen (Kap. 6) wird im Datenmaterial nicht auf die staatsbürgerliche Konvention rekurriert, in dem Sinne, dass eine Wiedereingliederung und entsprechende Anpassungen des Arbeitsplatzes an den Gesundheitszustand von Beschäftigten als ein im Arbeitnehmerstatus begründetes kollektives Anrecht postuliert wird. Die staatsbürgerliche Konvention ist einzig präsent in der Kritik an Arbeitsbedingungen hinsichtlich der durch sie verursachten gesundheitlichen Belastungen durch Beschäftigte (vgl. Abschn. 10.1).

So lässt sich Bernhard Aebischers Kritik an den Arbeitsbedingungen und dem Umgang mit Beschäftigten als Versuch verstehen, die Arbeitsbedingungen als gesundheitliches Risiko für alle Kundenberater zu problematisieren und damit auf Kollektivinteressen zu rekurrieren (Abschn. 8.1). Im BGM fehlen jedoch „Arrangements“, die eine über die staatsbürgerliche Konvention begründete Einforderung gesundheitsverträglicher Arbeitsbedingungen mit Allgemeinheit ausstatten würden. Kritik an den Arbeitsbedingungen wird vielmehr dadurch absorbiert, dass sich das BGM mit den individuellen Problemen der betreffenden Beschäftigten auseinandersetzt.

In den drei Unternehmen werden Wiedereingliederungen oder gesundheitsgerechtere Arbeitsbedingungen kaum im Namen des Kollektivinteresses innerhalb des Betriebs eingefordert. Dies mag mit der Entwicklung der „Entkollektivierung“ von Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit zusammenhängen, die zunehmend individualisiert wurden, seit nicht nur physische, sondern auch psychische Belastungsfaktoren berücksichtigt werden (Brunnett 2018). Für die Schweiz überrascht die Marginalität der staatsbürgerlichen Konvention in der Rechtfertigung von Eingliederungsmaßnahmen darüber hinaus nicht, weil es in diesem Bereich tatsächlich keine gesetzlichen Vorgaben für Unternehmen gibt, die die Berücksichtigung psychischer Gefährdungen bei der Arbeit als Anrecht der Arbeitnehmenden verankern würden.