Neurowissenschaft : Wie Bewegung den Lernprozess unterstützt

Kinder in Deutschland bewegen sich zu wenig. Das hat Anfang des Jahres eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung gezeigt. Das hat nicht nur Folgen für die Gesundheit, sondern auch für den Lernerfolg. Die Neurowissenschaftlerin Petra Arndt erklärt im Schulportal, wie genau Bewegung den Lernprozess unterstützt und wie Lehrkräfte diese in ihren Unterricht integrieren können.

Es reichen oft schon ein paar Minuten Bewegung, um das Lernen zu unterstützen.
Es reichen oft schon ein paar Minuten Bewegung, um das Lernen zu unterstützen.
©Getty Images/Kevin Dodge

Schulportal: Wie beeinflusst Bewegung das Gehirn und die kognitiven Funktionen?
Petra Arndt: Das Spannende an Bewegung ist, dass sie das Gehirn auf mehreren Wegen beeinflusst. Zum einen haben wir den direkten Effekt, den wir im ganzen Körper spüren: die erhöhte Durchblutung, die wir in den Muskeln spüren und die uns wacher macht. Das betrifft auch das Gehirn. Durch die bessere Sauerstoffversorgung können die Gehirnzellen besser arbeiten, was sich auf die kognitiven Funktionen auswirkt.

Außerdem werden während der Bewegung Botenstoffe ausgeschüttet, die dafür sorgen, dass wir uns wohlfühlen und ausgeglichener sind. Das ist der Effekt des Stressabbaus – eigentlich die Beseitigung eines Hindernisses: Wenn wir uns gestresst fühlen, können wir uns schlecht konzentrieren, schlechter schwierige Aufgaben lösen oder unsere Emotionen regulieren.

Und der dritte Effekt ist für uns Neurowissenschaftler der spannendste: Durch Bewegung werden Wachstumsfaktoren ausgeschüttet, sogenannte neurotrophe Faktoren, die dem Aufbau und der Stärkung neuronaler Verbindungen dienen. Wenn wir denken, kommunizieren Nervenzellen über Fasern miteinander und bilden erste Verbindungen, vergleichbar mit einem Trampelpfad. Wir brauchen genau die Bausteine, die durch Bewegung vermehrt zur Verfügung stehen, um aus diesem Trampelpfad eine ordentliche Straße oder eine Autobahn zu machen, die wir wieder befahren können, um das, was wir an Wissen oder Erfahrungen gesammelt haben, wieder abrufen und nutzen zu können.

Wie viel sollten sich Kinder täglich bewegen?
Aus Studien wissen wir, dass sich Kinder viel zu wenig bewegen. Die Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation liegt bei 60 Minuten moderater bis hoher körperlicher Aktivität pro Tag. Wenn wir das hätten, dann hätten wir viel mehr von diesen Wachstumsfaktoren für das Gehirn im Nervensystem der Kinder. Mehr Bewegung wäre also gut für alle Lernprozesse, nicht nur für die körperliche Gesundheit. Und dennoch: Bewegung ist kein Allheilmittel. Wenn die Unterrichtsqualität insgesamt nicht stimmt oder wenn ich Schülerinnen und Schüler habe, die stark belastet sind, dann kann ich das mit Bewegung vielleicht etwas mildern, aber nicht auflösen.

Wenn man einen sehr hohen Stresspegel hat – zum Beispiel bei einem Konflikt in der Klasse oder nach einer Klassenarbeit –, dann kommt man mit fünf Minuten Bewegung nicht so weit.
Petra Arndt, Neurowissenschaftlerin

Welche Bewegungsarten sind für das Lernen besonders förderlich? Sind fünf Minuten ausreichend?
Man muss sich fragen, was den Lernprozess gerade stört. Wenn man merkt, dass die Schülerinnen und Schüler unkonzentriert oder gestresst sind, nicht mehr richtig aufpassen, dann kann ich mit fünf Minuten Atem- und Konzentrationsübungen – vielleicht ein Element aus dem Yoga – viel erreichen.

Wenn es eher Müdigkeit ist, dann komme ich auch mit fünf Minuten aus, aber ich brauche etwas anderes. Dann muss ich den Rumpf und die Arme bewegen. Das führt zu einer vertieften Atmung, und dann habe ich eben diesen Effekt der Durchblutung und der Ausschüttung von Wachstumsfaktoren. Vielleicht ist es auch ein Bedürfnis nach sozialer Interaktion, dann lässt man die Klasse die fünf Minuten miteinander spielen.

Wenn man einen sehr hohen Stresspegel hat – zum Beispiel bei einem Konflikt in der Klasse oder nach einer Klassenarbeit –, dann kommt man mit fünf Minuten Bewegung nicht so weit. Dann tut man gut daran, sich wirklich 20 oder 30 Minuten zu bewegen. Es ist kein Zufall, dass sich die Schulpausen auf diesen Zeitraum beziehen. Denn die Erfahrung zeigt, wenn sich die Schülerinnen und Schüler in einer solchen Phase bewegen konnten, dann geht es auch besser weiter.

Und wir haben noch einen ganz anderen Effekt, nämlich die Langzeitwirkung von Ausdauertraining. Wir können einmal mit einer kurzen Zeit von 20 bis 30 Minuten diese Wachstumsfaktoren anregen; wir können das aber auch längerfristig mit Ausdauersportarten, die regelmäßig ausgeübt werden, auf ein höheres Niveau heben. Auch davon profitieren Kinder und junge Erwachsene. Das konnte man in Studien sehr gut zeigen. Leider lässt sich das nicht so organisch in den Schulalltag integrieren.

Wie würden Sie sich den idealen Schulalltag unter Bewegungsgesichtspunkten vorstellen?
Ich würde alle Schülerinnen und Schüler sammeln, von denen ich weiß, dass sie einen besonders hohen Bewegungsbedarf haben oder gerade mit dem Elterntaxi gebracht wurden und noch gar nicht richtig wach sind. Dann investiere ich eine Viertelstunde in ein Bewegungsangebot mit Koordinationsübungen. Wir haben ein Projekt mit Schulen gestartet und getestet, wie ein solches Angebot wirkt. Viele Schulen sind nach der Modellphase dabeigeblieben, weil sie gesehen haben, dass die Schülerinnen und Schüler morgens ganz anders in den Unterricht kommen.

Gerade für Grundschulen ist das wichtig, weil viele Schülerinnen und Schüler ihren Bewegungsdrang gar nicht ausleben können. Das ist ein angeborenes Verhalten, das wir in unserer Kultur so oft unterdrücken; und das Elterntaxi macht es auch nicht besser. Wenn die Kinder bereits einen Schulweg hinter sich haben, dann haben sie sich immerhin schon ein bisschen bewegt.

Und während des Schultages?
Es ist wichtig, dass die Lehrkräfte ihre Klasse gut im Blick haben: Vielleicht habe ich eine Aufgabe, die viel Übung und Wiederholung erfordert. Weil diese Daueraufmerksamkeit zu Ermüdung führt, brauche ich danach komplexe Koordinationsübungen – zum Beispiel auf einem Bein balancieren. Ein anderes Beispiel ist die Kombination von Konzentration und Bewegung: Zwei Kinder stehen sich gegenüber, eines macht Körperbewegungen vor, das andere versucht wie ein Spiegelbild, so schnell und genau wie möglich zu folgen. Diese Kombination von Bewegung und Konzentration führt dazu, dass die Nervenzellen vor allem im vorderen Teil des Gehirns besser durchblutet werden. Das sind genau die Gehirnzellen, die wir für Aufmerksamkeit und gerichtete Konzentration brauchen. Auch hier reichen fünf Minuten.

Wenn im Unterricht etwas inhaltlich sehr neu und herausfordernd ist, eignen sich eher entspannende Yogaübungen. Wenn die Schülerinnen und Schüler abschalten, quatschen oder still vor sich hindämmern, muss ich sie entweder durch kräftige Bewegungen aufwecken oder mit einer Konzentrations- plus Bewegungsaufgabe zurückholen.

Zur Person

  • Petra Arndt ist geschäftsführende Leitung des ZNL TransferZentrums für Neurowissenschaften und Lernen.
  • Die promovierte Biologin arbeitet seit vielen Jahren an der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Psychologie und Pädagogik mit dem Ziel, wissenschaftliche Erkenntnisse interdisziplinär zu verknüpfen und für Schulen nutzbar zu machen.
  • Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Evaluation und Weiterentwicklung von Lehr- und Lernkonzepten sowie die Förderung der exekutiven Funktionen und Selbstregulation.
Petra Arndt
©Elvira Eberhardt/Universität Ulm

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