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Die importierten Fleißarbeiter

In den 80er-Jahren kamen 60 000 Vietnamesen in die DDR - Eine Ausstellung erinnert daran

Mauerspechte. Das Foto, das Nguyen Thi Tam aus ihrer Handtasche hervorgekramt hat, zeigt sie, ihren damaligen Mann und ihren kleinen Sohn, die zusammen an der Berliner Mauer stehen. Der Sohn hält einen Hammer in der Hand. "Das war, als die Mauer fiel", sagt Tam. Sie ist die Erste, die sich nach einigem Zögern hingesetzt hat auf die Couch, hier im Beratungszentrum des Vereins "Reistrommel" in Marzahn. Um von ihrer DDR-Zeit zu erzählen. Weil es darüber jetzt eine Ausstellung gibt. Als Erstes hat sie verkündet: "Mein Deutsch ist sehr schlecht - wir brauchen einen Dolmetscher." Aber der kommt nicht. Und wenig später wird sie Sätze sagen wie "mein Sohn hat Medizintechnik in Lübeck studiert" und "letzte Woche habe ich 007 im Kino gesehen". Wir brauchen erst mal keinen Dolmetscher. Tam kam 1989 als Vertragsarbeiterin aus Hanoi in die DDR. Es war Sommer, als sie am Flughafen Schönefeld aus der Maschine stieg. Sie erzählt von ihrem Gedanken gleich nach der Ankunft: "Hier will ich bleiben!"

90 000 Vertragsarbeiter

In jenem Jahr, 1989, erreichte die Zahl der Vertragsarbeiter aus anderen sozialistischen Staaten in der DDR mit über 90 000 ihren Höhepunkt. Rund zwei Drittel davon kamen aus Vietnam, mehr als 15 000 aus Mosambik, weitere aus Angola, Kuba, China, Nordkorea, Algerien, Ungarn und Polen.

Tams damaliger Ehemann, in früheren Jahren in der DDR ausgebildet, kehrte schon zwei Jahre vor seiner Frau aus Vietnam in die DDR zurück, man brauchte ihn als Gruppenleiter und Dolmetscher für die Vertragsarbeiter in Zwickau. Dort wurde Tam später eine Arbeit in einem Betrieb für Kinderbekleidungsherstellung zugewiesen, sie wohnten in einem der Wohnheime für vietnamesische Vertragsarbeiter. "Unser Sohn konnte kein Wort Deutsch, aber er fand dort Kinder zum Spielen." Das erste Wort, das er aufschnappte, war "schnell". Er kam nach Hause und sagte "schnelllllll!" und er rollte dabei die Zunge über die Oberlippe. Tam lachte und sagte: "Du brauchst die Zunge dabei nicht rauszustrecken." Sie selbst hatte vor ihrer Abreise in einem Kurs Deutsch gelernt.

Schon vor 1980 kamen Vietnamesen in die DDR, sie studierten dort und wurden ausgebildet. Der Einsatz von Vertragsarbeitern begann aber erst nach der Unterzeichnung des Regierungsabkommens zwischen der Sozialistischen Republik Vietnam und der DDR vom 11. April 1980. Am Anfang erhielten die Vertragsarbeiter noch eine Berufsausbildung, später wurde mit ihnen überwiegend der Mangel an Arbeitskräften in der DDR gedeckt. Sie wurden für unqualifizierte und oft schwere Arbeit oder Fließbandarbeit eingesetzt - unabhängig von ihrer Qualifikation und Schulausbildung. Tam kam als Ingenieurin.

Auch Vietnam war daran interessiert, junge Bürger als Arbeitskräfte in die DDR zu schicken: nicht nur, um der Arbeitslosigkeit in Vietnam entgegenzuwirken, sondern auch, um die Devisen zur Abzahlung der Staatsschulden zu erwirtschaften. So wurden von den DDR-Betrieben zwölf Prozent des Bruttolohns der Vertragsarbeiter einbehalten und an die vietnamesische Regierung überwiesen.

Auf der Couch hat auch Chu Thi Nhan, 51, Platz genommen. Sie hat die ganze Zeit über nichts gesagt, sondern weiter auf den Dolmetscher gewartet. Nun kommt Nguyen Thi Lien, 59, auch ehemalige Vertragsarbeiterin, und übersetzt: Nhan habe bis drei Tage vor ihrer Abreise 1988 nicht gewusst, dass sie fortgehen würde. Sie musste ihre neunjährige Tochter zurücklassen. Nhan, ausgebildete Krankenschwester, kam nach Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, um in einem Glühlampenwerk zu arbeiten. Lien hatte in Zittau studiert. "Kraftwerksanlagebau - sehr männlich", erklärt sie und lacht.

Sie wurde 1987 als Dolmetscherin für die Vertragsarbeiter in einer Schuhfabrik nach Schwedt delegiert. Im Wohnheim sei alles "nagelneu" gewesen, sagt sie. Die Frauen sagen nichts Schlechtes über die Vertragsarbeiterwohnheime. Über die Realität und Regeln in diesen Häusern erfährt man von Tamara Hentschel mehr. Die Vorsitzende des Vereins Reistrommel hatte als Betreuerin in einem dieser Wohnheime in Ost-Berlin gearbeitet. Die Bewohner, die dort in Mehrbettzimmern pro Schlafplatz fünf Quadratmeter Platz zur Verfügung hatten, wurden streng überwacht, ab 22 Uhr herrschte Ausgehverbot. Familienzusammenführungen waren ebenso wenig erwünscht wie Integration. In der Regel erhielten die Vertragsarbeiter einen Fünfjahresvertrag, nach Vertragsende mussten sie nach Vietnam zurückkehren. Frauen, die schwanger wurden, mussten entweder abtreiben oder sie wurden abgeschoben.

Nach der Wende

Dann brach die DDR zusammen. Ein großer Teil der Vertragsarbeiter kehrte in seine Heimat zurück. Schätzungsweise 15 000 Vietnamesen blieben. Sie waren die Ersten, die in den Betrieben ihre Jobs verloren. Die Wohnheime wurden nach und nach geschlossen, die Vertragsarbeiter standen buchstäblich auf der Straße. Für sie begann eine Zeit der Unsicherheit, der Zugang zu Arbeit blieb ihnen zunächst verwehrt. Diese Zeit trieb viele in die Illegalität, auch in den Zigarettenhandel. Ein Beschluss der Innenministerkonferenz 1993 beinhaltete eine Arbeitserlaubnis und eine befristete Aufenthaltsbefugnis. Ein großer Teil machte sich daraufhin selbstständig, gründete Imbissstuben, Restaurants, Blumenläden, verkaufte Gemüse und Obst. Tam, die Ingenieurin, kam nach Berlin, arbeitete zuerst in Weißensee in einer Dönerbude, dann verkaufte sie Zeitungen, dann Kuchen, dann Kleider. "Wir haben so ziemlich alles versucht." In Berlins Ostbezirken leben etwa 8000 ehemalige Vertragsarbeiter, manche davon zogen nach der Wende aus den neuen Bundesländern her. Auch Nhan und Lien kamen nach Berlin und verkauften Kleidung auf der Straße.

Sie kennen das Wort "Skinheads", solche hätten ihnen die Kleider, mit denen sie handelten, manchmal entrissen. Sie blieben trotzdem. Warum? Sie sagen, in Vietnam wäre es noch viel schwieriger gewesen mit ihrer Existenz.

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Die Vietnamesen haben einen Schutzengel, er heißt Tamara Hentschel. Nachdem ihr als Wohnheimbetreuerin gekündigt wurde, gründete sie mit Hilfe des Missionswerks der evangelischen Kirche eine Beratungsstelle für die vietnamesischen Vertragsarbeiter. Sie kämpfte für Bleiberechte. Gegen die Abschiebung. Gegen die wachsende Ausländerfeindlichkeit. Dafür, dass die Vietnamesen wieder für eine günstige Miete in den alten Wohnheimen wohnen konnten. 1993 gründete sie den Verein Reistrommel. Tamara Hentschel hat nie aufgehört, bis heute. Für dieses Engagement wurde sie 2003 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt.

Die zweite Generation

Jetzt, knapp zwanzig Jahre, nachdem die Zeit der Vertragsarbeiter endete, hat der Verein Reistrommel diesem Stück DDR-Geschichte eine Ausstellung gewidmet: "Bruderland ist abgebrannt". Diese erzählt vom Alltag der Vertragsarbeiter, wie sie hierher kamen, und wie es ihnen nach der Wende erging. Projektkoordinatorin Susanne Harmsen recherchierte und trug viele solcher Lebensgeschichten zusammen. Nach und nach kamen auch Zeitzeugenberichte aus anderen Herkunftsländern wie Angola und Mosambik dazu. Filme und Audioberichte und eine nachgebaute Schlafecke aus einem Wohnheim ergänzen die Schautafeln, zudem erzählen ehemalige Vertragsarbeiter vor Ort aus ihrem Leben.

Und heute? Tam, Nhan und Lien reden von Hartz IV. Aber das seien die wenigsten, sagt Tamara Hentschel. Die meisten hätten mit ihren eigenen Läden und Restaurants ihre Nische gefunden, überhaupt ihr eigenes Netzwerk ohne Deutsche. Die Frauen erzählen von ihren Kindern: Tams Sohn kehrte nach dem Medizintechnikstudium nach Vietnam zurück. Er arbeite dort erfolgreich mit ausländischen Firmenpartnern zusammen. Tams früherer Ehemann kehrte auch zurück in die Heimat, schon vor Langem. Nhan und Lien konnten ihre Kinder erst nach der Wende nach Deutschland holen. Nhans Tochter hat Betriebswirtschaft studiert, sie und Lien haben bereits Enkelkinder.

Es ist auch diese zweite Generation, um die sich der Verein Reistrommel kümmert. Sie sind gut in der Schule, die Kinder der Vertragsarbeiter, überdurchschnittlich viele besuchen ein Gymnasium. Fleiß ist bei Vietnamesen Mentalität. Für viele bedeutet das aber auch Druck und Überforderung. Meist müssen sie sich nach der Schule um jüngere Geschwister kümmern, während die Eltern 16 Stunden am Tag arbeiten, auch am Wochenende. Und sie müssen im Geschäft mit anpacken. Dort kämpfen ihre Eltern mit der sinkenden Kaufkraft und Preisdumping. Für echtes Familienleben bleibt keine Zeit. Manche rebellieren, wenn sie in die Pubertät kommen, weil sie sich ein anderes, eigenes Leben wünschen - und die enttäuschten Eltern reagieren mit Unverständnis. "Uns bleibt weiterhin viel zu tun", sagt Tamara Hentschel.

Ausstellung "Bruderland ist abgebrannt" zur Geschichte der Vertragsarbeiter: Wörlitzer Straße 3a in Marzahn, Havemann-Center, 1. Obergeschoss. Bis 30. Dezember, Mo. und Mi. 16-20 Uhr, Di., Do., Fr. 11-15 Uhr. Infos: www.reistrommel-ev.de

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