Deutschlands Fußballfans hatten auf solch einen Abend gehofft. Dass er aber mit einer solchen Wucht Realität werden könnte, dürften nur die wenigstens geglaubt haben. Deutschland startet mit einem historischen 5:1 (3:0)- Erfolg gegen Schottland in die EM im eigenen Land. Nie zuvor hat die Nationalelf ein EM-Spiel mit mehr als drei Toren Vorsprung gewonnen.
Deutschland begann ohne Überraschung in der Aufstellung. „Die Mannschaft hat sich gut eingespielt, es gab keinen Grund, zu wechseln“, sagte DFB-Sportdirektor Rudi Völler vor dem Anpfiff gegen zuletzt extrem schwache Schotten. Die Briten kamen mit der zweifelhaften Empfehlung von einem Sieg aus den vergangenen neun Spielen, und der gelang gegen Gibraltar.
Gegen Deutschland sollten sie keine Chance haben. Die DFB-Elf eröffnete wie entfesselt. Schon in der ersten Minute stand Florian Wirtz frei vor dem schottischen Torwart Angus Gunn, allerdings im Abseits. Neun Minuten später war das anders, als der Leverkusener eine Vorlage von Joshua Kimmich direkt nahm und den Ball mit einem Flachschuss ins linke Eck zum umjubelten Traumstart beförderte – 1:0.
Musiala schickt einen Schotten Whisky holen
Nicht gerade ein Kanonenschuss, den Gunn da passieren ließ, was den begeisterten Zuschauern aber egal war. Zumal Deutschland nachlegte: 70 Prozent Ballbesitz, stets nach vorn ausgerichtet, giftig in den Zweikämpfen – ein derart energiegeladener Turnierauftritt einer deutschen Nationalmannschaft war lange nicht zu bestaunen.
Und dann wurde auch gezaubert. Wie Ilkay Gündogan den Ball mit der Hacke mitnahm, sich drehte und einen Steckpass zu Kai Havertz spielte, war schlicht Weltklasse. Havertz bediente im Strafraum Jamal Musiala, der einen Schotten per Körpertäuschung zum Whisky holen schickte und den Ball dann aus elf Metern unter die Latte jagte – 2:0 (19.). Deutschland mag mit 29,0 Jahren im Schnitt den ältesten Kader im Turnier haben, die ersten Tore aber schossen die Jungen: Beide sind erst 21.
„Oh, wie ist das schön“, hallte es alsbald durch das Münchener Stadion, und fast wäre es noch schöner geworden. Doch Schiedsrichter Clement Turpin kassierte seinen Elfmeterpfiff wieder ein, weil der extrem starke und spielfreudige Musiala ganz knapp vor dem Strafraum gefoult wurde.
Mit den Stollen auf Gündgans Knöchel
Kurz vor der Pause lief es andersherum. Bei einem Nachschussversuch von Gündogan wurde dieser brutal umgetreten. Ryan Porteous sprang dem deutschen Kapitän mit den Stollen voran in den Knöchel. Dass Gündogan danach nicht ins Krankenhaus musste, war wohl eine Mischung aus Glück und guter Schienbeinschonerwahl. Turpin jedenfalls zog sich am Spielfeldrand das Video rein und dann extrem schnell seine Schlüsse. Rote Karte und Elfmeter, den Havertz sicher verwandelte (45.+1).
3:0 zur Pause, ein Mann mehr: Wenn sich Nagelsmann eine erste Halbzeit hätte malen könne, sie hätte wahrscheinlich genau so ausgesehen.
Auch nach dem Wechsel ging es bunt zu. Zehn Schotten versuchten nur noch selbige dichtzumachen, und die Deutschen ließen den Ball wie bei einem Handballangriff um den Strafraum kreisen, um einen freien Schuss zu erwischen. Das gelang Wirtz (58.), Musiala (59.) und dem eingewechselten Leroy Sané (63.), doch das vierte Tor ließ auf sich warten. Es sollte bald fallen. Wieder eingeleitet vom überragenden Musiala, fiel der Ball Niclas Füllkrug vor die Beine. Der fünf Minuten zuvor eingewechselte Mittelstürmer handelte wie ein Mittelstürmer und drosch den Ball mit 110 km/h ins rechte Toreck – 4:0 (68.).
Rüdigers unglückliches Eigentor
Und Nagelsmann hatte noch eine Pointe parat, indem er Thomas Müller in der 73. Minute zur Einwechslung beorderte. Als der Spieler des FC Bayern in seinem Stadion Musiala ablöste, erhoben sich die Zuschauer: Sie applaudierten erst der Gegenwart und Zukunft des deutschen Fußballs und feierten dann eine seiner Legenden mit „Thomas Müller“-Sprechchören.
Nach einem aberkannten Füllkrug-Tor (76.) gab es den einzigen Wermutstropfen des deutschen Abends. Antonio Rüdiger fälschte einen Ball mit dem Kopf extrem unglücklich ins Tor des ansonsten beschäftigungslosen Manuel Neuers zum 4:1. Doch das war nicht der Schlusspunkt. Den besorgte der erst am Mittwoch nachnominierte und nun eingewechselte Emre Can mit einem Schlenzer zum 5:1. (90.+2).
Dann war Schluss. Die deutschen Fans verließen das Stadion ein wenig ungläubig und nun vereint in der Hoffnung auf ein großes Turnier.