Langsam gehe ich über den Platz und nähere mich der Würstelbudenversammlung, die über Fußball debattiert. Wen wundert’s, steht sie doch am Ernst-Happel-Stadion, dem Ort der deutschen Schmach.
Doch keiner soll denken, hier ginge es zu wie im Fanblock. Nein, hier hat man Manieren: „Bitte sehr, die Dame! Macht 3,80, die Waldviertler. Einen scharfen dazu?“ Senf ist gemeint. Es empfiehlt sich, das Wiener Wurst-Vokabular einzuüben: „A Haße bedeutet „eine Burenwurst“, wobei es eher „ein Burenhäutl“ ist, also eine Gebrühte.
Den Senf bestellt man einfach als „Scharfen“ oder „G’spiebenen“ (was so viel heißt wie „Gekotzten“), oder man nimmt ihn als „G’spritztn bzw. „G’schissenen“, will sagen: süßen Senf. Dazu ein „Krokodü“? Das wäre dann eine Essiggurke. Wer ein Paar Frankfurter will, die ja in Deutschland Wiener Würstchen heißen, bestellt a „Poar Glatte“. Oder doch lieber „a Eitrige“?
Die hatte ich gestern beim schicken Bitzinger neben der Albertina (Albertinaplatz 1, U1/2/4 Karlsplatz/Oper): eine Käsekrainer, also eine mit Emmentaler und geräuchertem Schweinebrät gefüllte Wurst. Auf dem Flachdach prangt neben dem Dürer-Hasen in Grün weithin sichtbar eine Moët-&-Chandon-Flasche. Das hat seinen Grund: Der Bitzinger ist der einzige Würstelstand, der in seinem Angebot auch Schampus haben darf.
Während des Opernballs kommen die Gäste schon mal rüber, genehmigen sich einen Pausensnack und dazu einen nicht ganz so günstigen Mini-Moët (0,2 Liter; Kostenpunkt 23,90 Euro). Die Klientel reicht vom Nachtschwärmer über den japanischen Touristen bis zum Operngast. Einen Frack neben einem Kapuzen-Sweater zu erspähen, ist keine Seltenheit. Die Würstelstände sind also keineswegs „nur verstaubt“, wie manche behaupten.
Zwei nicht mehr ganz frische Herren gaben sich gegenseitig Tipps und zeigten demonstrativ auf die Käsekrainer: „Wenn du zu viel g’soffn hast, dann hülft a Eitrige!“ Katermedizin! Dazu „a Oaschpfeiferl“ (scharfe Pfefferoni) und einige 16er-Blech (Dosenbier) als Konter. Die heißen so, weil die Ottakringer-Brauerei im 16. Bezirk steht.
Wurstologie ist eine Wiener Wissenschaft
Die Würstelstände sind tief verankert im kollektiven Wiener Bewusstsein und werden wohl niemals durch Fast Food wie Burger & Co. verdrängt werden, sinniere ich, während ich am Stadion in meine Waldviertler (geräucherte Fleischwurst mit dickerer Haut) beiße.
Der spezielle Geschmack entsteht durch die hiesige Gewürzmischung im Wurstwasser oder Bratfett. Wer auf höllenscharf steht, sollte zum „Scharfen René“ (Schwarzenbergplatz 15, U2 Karlsplatz) gehen, wo Betreiber René Kachlir die Soßen in verschiedenen Schärfestufen mit Senf oder Ketchup mischt.
Wurstologie ist eine Wiener Wissenschaft. Doch egal, wie: Die Wurst taugt als Imbiss zwischendurch, gegen nächtlichen Hunger, als Medizin. Und die Würstelstände dienen als Treffpunkte zum philosophischen Diskurs und zur Völkerverständigung.
„Jedes Jahr wählen die Wiener ihren beliebtesten Würstelstand!“, weckt mich der Nachbar am Nirosta-Tresen aus meinen Gedanken. Seiner ist eindeutig der am Stadion, seit 1952 in Familienbesitz. „Ganze Generationen sind stets hierher zum Fleischverzehr gekommen.“ Darauf a Hülsn!
Der Artikel ist ein Auszug aus dem jüngst in Neuauflage erschienenen Buch „Wien – Abenteuer“ von Reisebuchautorin Judith Weibrecht (240 Seiten, 17,90 Euro, Michael Müller Verlag/mm-abenteuer.de). Es beschreibt 33 Erlebnisse in und um Wien, die außergewöhnlich sind und abseits üblicher Touristenrouten stattfinden.