Wie bereite ich mich vor auf die große Reise über den Atlantik? Diese Frage muss sich jeder stellen, der keinen durchgetakteten Pauschal- oder Kreuzfahrttrip vor sich hat. Bei den Vereinigten Staaten ist sie besonders schwierig zu beantworten, weil das Land so ausufernd und vielfältig ist. Wer einen Wanderurlaub in Montana plant oder Sonnenbaden in Florida, wird sich anders einstimmen wollen als der Metropolenhopper zwischen Austin, Chicago und natürlich New York.
Wer will, wälzt vorab Reiseführer. Aber kann man das Land auch anders kennenlernen, zum Beispiel durch Fernsehserien? Die Antwort ist: eindeutig ja. Fast jeder Bundesstaat ist Schauplatz einer oder mehrerer Epen, die lokale Mentalitäten, Dialekte und Landschaften mindestens als Nebendarsteller haben.
Die eiswindige Lakonie in der Coen-Brüder-Serie „Fargo“, der nach Kuhmist duftende Reichtum in „Dallas“, der schwüle Mythensumpf in „True Blood“. Es spricht für die Qualität amerikanischer Serien, dass sie so treffgenau pointiert das Wesen ihrer Schauplätze erfassen. Natürlich kann der Bildschirm nie die Reise selbst ersetzen. Eine wunderbare Einstimmung aber kann er bieten.
New York: „Sex and the City“
Es gibt viele gute Argumente gegen diese Serie: Sie handelt von vier wohlhabenden weißen Frauen, deren Hauptinteressen Drinks und gossip, Designermode und die Suche nach dem Mann fürs Leben sind.
Die Kinofilme sind erschütternd unlustig, und die Nachfolgeserie „Just Like That“ versuchte sich allzu krampfhaft darin, mit der Zeit zu gehen. Wenn man aber New York als einen Märchenort der Neurosen und Sehnsüchte sehen will, dann hat die Serie Tempo, Witz und die angemessene Vergötterung für die Stadt, in der sie spielt und von deren Spirit sie lebt.
Maryland: „The Wire“
In den Bestenlisten der Kritiker rangierte diese Serie von 2002 bis 2008 stets auf einem der Spitzenplätze. Die urbane Verwüstung, die Verstrickung von Gut und Böse und der grassierende Rassismus werden in komplexen Handlungsbögen erzählt. Ohne Untertitel ist der deutsche Zuschauer aufgeschmissen. „The Wire“ zeigt Baltimore in Maryland als hoffnungslose Ruine des postindustriellen Amerikas – nur ein paar Hundert Meilen von dessen Hauptstadt Washington entfernt.
Missouri: „Ozark“
Das grandiose Berg- und Flusspanorama Missouris spielt eine Hauptrolle in dieser Serie, nämlich als vermeintlich idealer Ort für diskrete Geldwäsche. Das hofft zumindest der Finanzberater Marty Byrde, der mit seiner Familie aus Chicago in diese scheinbare Idylle flieht, um seinen Schuldenberg abzubauen. Gelingt natürlich nicht, denn in der Idylle, das zieht sich durch die Landschaft amerikanischer Serien, warten hausgemachte und fremde Abgründe.
North Dakota: „Fargo“
Die Ödnis der Landschaft und die unerbittliche Kälte des Winters haben den Film der Coen-Brüder geprägt und ebenso die Serie, die knapp 20 Jahre später gedreht wurde. Was oft genug schiefging, ist den Brüdern meisterhaft gelungen: Die Serie zitiert den Film, erzählt aber ganz eigene Geschichten über wüste Bandenkriege, gescheiterte Familienidyllen, kleinen und großen Wahnsinn.
Die Moral, wenn man bei den Coen-Brüdern davon sprechen kann, ist immer die gleiche: Die USA sind auf Blut gegründet, und am Ende gewinnt immer der dickere Fisch.
Nordkalifornien: „Big Little Lies“
Reese Witherspoon gilt als reichste Schauspielerin Hollywoods. Sie hat das erreicht, indem sie erfolgreich auf, nun ja, Frauenstoffe gesetzt hat. Sie war die von einer Nachfolgerin bedrohte Moderatorin in „The Morning Show“ und koproduzierte unter anderem „Little Fires Everywhere“ und „Big Little Lies“.
Diese Serie, üppig besetzt mit Kolleginnen wie Nicole Kidman und Meryl Streep, spielt in Monterey, also in der malerischen Küstenregion Nordkaliforniens, wo fünf Mütter aus dem (selbst-)zufriedenen linksliberalen Bürgertum in einen mysteriösen Mordfall verwickelt werden.
Florida: „Miami Vice“
Zugegeben ein sehr nostalgisches Vergnügen, und der Humor dieser Serie (1984–1989) ist nicht gut gealtert. Aber Miami ist eine interessante Stadt: die vielleicht tropischste in den USA und wegen der Nähe zu den Drogen aus Mittelamerika auch eine der umkämpftesten.
Die beiden Detektive in Ferraris und bonbonfarbenen Klamotten sind natürlich Märchenprinzen, in dem sehr sehenswerten Kinofilm von 2006 hat sich ihre Welt deutlich verdunkelt. Speedboats, schöne Frauen und schnelle Autos allerdings gibt es dort auch noch.
Texas: „Dallas“
Zu Zeiten des Analogfernsehens (wenige Sender, feste Zeiten) war diese Serie eine weltweite Sensation. Sie zeigt ironischerweise ein Amerika, wie es sich seine Kritiker ausmalten.
Die Charaktere sind entweder Langweiler (Clanmutter Miss Ellie, Sohn Ray) oder Teufel (allen voran Superschurke J. R. Ewing). Und praktisch alle sind reich, leben aber in einer Tristesse aus piefiger Familienfarm und dem „Cattleman’s Club“, wo Cowboystiefel und Whiskeyglas zur Grundausstattung gehören. Die subversive, fast brechtsche Botschaft: Wir alle drücken dem Bösesten die Daumen.
Washington: „Twin Peaks“
Ein freak accident der Fernsehgeschichte. Regisseur David Lynch verwandelte die Kleinstadt Snoqualmie im dauerverregneten Washington State in einen Ort der schwarz-grauen Magie und der verdrehten Charaktere. Offiziell geht es um den rätselhaften Tod der schönen Laura Palmer, aber genauso geht es um Kirschkuchen und den Wahnsinn, der in der schlichtesten Blockhütte lauert.
„Twin Peaks“ bewies lange vor dem Siegeszug der „Sopranos“, dass im Fernsehen wirklich alles möglich ist. Der geniale Soundtrack von Angelo Badalamenti, dem Richard Clayderman der 90er, beförderte die Karriere des Technomusikers Moby, der „Laura Palmer’s Theme“ zu seinem ersten Welthit „Go“ umstrickte.
Louisiana: „True Blood“
Eine Horrorserie (2008–2014) in der irrlichternden Sumpflandschaft von Louisiana. Die Vampire haben ihre Menschenjagd aufgegeben und ernähren sich von Dosenblut („True Blood“), andere Horrorwesen mischen sich ein, und natürlich gibt es Blutsauger, die sich mit dieser Abstinenz nicht abfinden mögen.
Eine Parabel auf die Aids-Krise, auf den Rassismus, auf die Unergründlichkeit der Südstaaten? Von allem ein bisschen. Die Titelsequenz ist zeitlos schön: mit überfahrenem Opossum, Flusstaufe und dem Lied „Bad Things“ von Jace Everett.
Massachusetts: „Mindhunter“
Amerika ist besessen von seiner dunklen Seite. Von den Anfängen der Kriminalpsychologie in den 70er-Jahren erzählt diese Serie (2017–2019), die auf echten Ermittlern und Fällen beruht. Bei dem Versuch, das Wesen und Vorgehen von Serienmördern zu verstehen, reisen zwei FBI-Agenten aus Boston durch die nach den blauäugigen und blutigen 60ern innerlich zerrissenen Vereinigten Staaten und treffen auf unbegreifliche Taten und das Unverständnis ihrer Kollegen.
Georgia: „Atlanta“
Eine von dem Schauspieler Donald Glover entwickelte dramady über einen Rapstar aus Versehen und die Musikstadt Atlanta. Die Serie galt in ihrem Erscheinungsjahr 2016 als visionär, weil Weiße nur Nebenrollen spielen (vor allem als prügelwütige Polizisten). Aber noch wichtiger sind der lässige, fast schlampige Flow der Geschichte und das nebenbei gezeichnete Porträt einer der musikalisch wichtigsten Städte der USA.
Oregon: „Portlandia“
Nicht nur Firmensitz von Nike, sondern auch eine der Weltzentralen der Alternativkultur: Portland. Über die überzogene Political Correctness und die überzüchteten Ernährungsmarotten der Stadt machte sich diese Serie (2010–2018) lustig, was umso wirkungsvoller war, weil diese Trends von dort um die Welt gingen.
Wer genau hinschaut, findet Portlandia auch in Long Island, Montana oder Austin (Texas). Es gibt zahllose Gastauftritte bekannter Musiker und Schauspieler und keine fortschreitende Handlung, sondern eher lose aneinandergeknüpfte Sketche, vergleichbar mit einer kuscheligen Häkeldecke. Sogar ein „Portlandia Cookbook“ wurde verfasst, welches Parodie und Liebeserklärung in einem ist.
Washington, D. C.: „Madam Secretary“
Man muss sich erst reinsehen in den Stil der Hauptdarstellerin Téa Leonie, die stets so spricht, als würde das Schlafmittel gerade zu wirken beginnen. Aber die Geschichte über eine ehemalige CIA-Agentin, die erst zur Außenministerin und später zur Präsidentin wird, lebt von der Gegenüberstellung von Familienleben und Amt sowie von einer relativ klarsichtigen Schilderung des schmutzigen Geschäfts Politik in Washington.
Einige der Nebenfiguren hätten eigene Serien verdient, vor allem der Politkollege aus China, ein eiskalter Parteisoldat und klammheimlicher Idealist.
Südkalifornien: „Silicon Valley“
Heute würde man vielleicht keine Komödie draus machen, aber von 2014 bis 2019 blieb einem bei dieser Parodie auf die Weltzentrale des Digitalkapitalismus das Lachen noch nicht im Hals stecken.
Eine Gruppe von Fastgenies wurschtelt in einer chaotischen WG an revolutionären Erfindungen, während die etablierten Tech-Giganten, esoterische Exzentriker mit Haifischinstinkt, sie abwechselnd vernichten oder kaufen wollen. Die Spezies der „Brogrammer“, also Programmierer mit Muskeln, ist nur eines der vielen treffsicheren Details.
Montana: „Yellowstone“
Ein von Kevin Costner gespielter Großgrundbesitzer und sein gewalttätiger Clan versuchen, ihren Besitz und ihren ruppigen Lebensstil gegenüber übernahmewilligen Großstädtern zu verteidigen.
Nicht besonders raffiniert erzählt, trifft diese 2018 gestartete Serie aber offenbar einen Nerv. Sie zeigt (und feiert) die Wut des ländlichen Amerikas auf die Eliten an den Küsten.
Der Text ist ein Auszug aus der gerade erschienenen „Gebrauchsanweisung für die USA“ von Adriano Sack, 240 S., 16 Euro, Piper Verlag.