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Vor 60 Jahren

Als Ernst Reuter die Völker der Welt rief

Autorenprofilbild von Sven-Felix Kellerhoff
Von Sven-Felix KellerhoffLeitender Redakteur Geschichte
Veröffentlicht am 09.09.2008Lesedauer: 5 Minuten

Es war eine Rede aus dem Bauch heraus. Nur mit ein paar Notizen trat Ernst Reuter am 9. September 1948 vor die Berliner und die Welt und stellte seine berühmteste Forderung: "Schaut auf diese Stadt!" Dabei ging es ihm um ein Ende der Schikanen gegen demokratische gewählte Vertreter durch die SED. Doch Berlin litt damals unter der Blockade. Und so wurde seine Rede zum Ruf nach Freiheit für die Stad

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Es ist die Berliner Rede schlechthin: "Ihr Völker der Welt, ihr Völker in Amerika, in England, in Frankreich, in Italien! Schaut auf diese Stadt und erkennt, dass ihr diese Stadt und dieses Volk nicht preisgeben dürft und nicht preisgeben könnt!" Diese pathetischen Worte rief Ernst Reuter heute vor genau 60 Jahren mehr als 300.000 Berlinern zu, die sich auf dem Platz der Republik vor der Ruine des zerschossenen Reichstagsgebäudes versammelt hatten. Sie jubelten dem rechtmäßig gewählten, aber von den Sowjets nicht anerkannten Oberbürgermeister frenetisch zu.

Reuters Rede vom 9. September 1948 gilt als Protest gegen die Blockade der drei westlichen Sektoren der schon geteilten, aber noch nicht von einem Todesstreifen zerschnittenen Stadt. Das ist nicht falsch, denn so nahmen Berlin, ganz Deutschland und die freie Welt die Ansprache wahr. Doch eigentlich ging es bei der grandiosen Kundgebung, die man den Neubeginn der Demokratie in Deutschland nennen kann, gar nicht um die Geiselnahme West-Berlins.

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Protest gegen die SED

Vielmehr gab es einen heute längst vergessenen Anlass für Reuters Rede. Am 6. September 1948 hatten zum dritten Mal innerhalb von nur zwei Wochen bestellte kommunistische Demonstranten eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung verhindert. Das Stadtparlament, im Herbst 1946 gewählt, war den Sozialisten um Walter Ulbricht ein Dorn im Auge. Denn die SED hatte nur 19,8 Prozent der Wählerstimmen erhalten, die SPD, CDU und die liberale LDP dagegen viermal so viel. Immer wieder störten Kommunisten fortan die Sitzungen der Versammlung unter ihrem Präsidenten Otto Suhr (SPD). Und obwohl die Sowjets seit Juni 1948 die Versorgung West-Berlins aus Westdeutschland zu Lande und zu Wasser blockierten, die Luftbrücke angelaufen war, tagten die Stadtverordneten weiter im Neuen Stadthaus an der Klosterstraße in Mitte.

Am 26. August hatten SED- und FDJ-Aktivisten zum ersten Mal das Zusammentreten der Abgeordneten verhindert. Einen Tag später dauerte die Sitzung gerade einmal vier Minuten, bis Otto Suhr sie aus Sorge vor eindringenden Demonstranten abbrechen musste. Der amtierende Oberbürgermeister Ferdinand Friedensburg (CDU) fand vor Journalisten klare Worte: "Der Magistrat wird vor der Gewaltandrohung einer verschwindend kleinen Minderheit nicht kapitulieren!"

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Ordner des Magistrats und Reporter wurden verprügelt

Otto Suhr wandte sich an den sowjetischen Stadtkommandanten, um Polizeischutz für die für den 6. September angesetzte nächste Sitzung zu erhalten. Doch natürlich wusste der Parlamentsvorsitzende, dass die SED-Demonstranten in vollem Einvernehmen mit den Sowjets handelten. Trotzdem wollte es Suhr ein letztes Mal versuchen. Diesmal stürmten SED-Mitglieder den Saal im Neuen Stadthaus und verprügelten Ordner des Magistrats. Auch Reporter des Rias wurden geschlagen, ohne dass danebenstehende Ost-Berliner Polizisten einschritten. Im Gegenteil führten sie einen Journalisten des "Tagesspiegel" und einen Vertreter der SPD-Parteizeitung "Sozialdemokrat" sogar in Handschellen ab. Erst nach dem Abzug der Demonstranten besetzten SED-treue Polizisten das Stadthaus, durchsuchten Büros und verhafteten jene Mitarbeiter, die sich auf die Seite des legitimen Magistrats gestellt hatten. Unter diesem Druck gab Otto Suhr auf und berief die Abgeordneten ins Studentenhaus am Steinplatz ein. Erst Ende Mai 1990 tagte wieder ein demokratisch legitimiertes Stadtparlament in Ost-Berlin.

Gegen die Sprengung des Berliner Parlaments durch die SED riefen alle demokratischen Parteien für den 9. September zu einer Großkundgebung auf. Ort sollte der im britischen Sektor und daher sichere, gleichwohl direkt an der Sektorengrenze gelegene Platz vor dem Reichstagsgebäude sein.

Im Mittelpunkt der Kundgebung stand nicht Reuter, der formal zu dieser Zeit nur ein gewöhnlicher Stadtrat war. Zunächst gedachte der Berliner SPD-Chef Franz Neumann der Opfer des politischen Widerstandes - und zwar der Jahre 1933 bis 1948. Heute klingt das nach unangemessener Gleichsetzung von NS-Diktatur und SED-Herrschaft. Doch vor 60 Jahren fanden Neumanns Zuhörer sein Gedenken völlig schlüssig, waren doch seit Frühsommer 1945 Tausende Gegner der KPD und der SED von den Sowjets verschleppt worden und bis 1948 überwiegend noch nicht wieder aufgetaucht. Nach Neumann sprach Otto Suhr. Im sowjetischen Sektor seien nunmehr endgültig die verfassungsmäßig garantierte Selbstverwaltung und die Freiheit aufgehoben.

Vom Bolschewiki-Funktionär zum überzeugten Antikommunisten

Erst dann kam Reuter zu Wort. Entgegen seiner Gewohnheit hatte er kein ausgearbeitetes Manuskript, sondern nur ein paar Notizen vor sich. Der brillante Rhetoriker redete sich selbst in Rage: "Uns kann man nicht eintauschen, uns kann man nicht verhandeln, und uns kann man auch nicht verkaufen. Es ist unmöglich, auf dem Rücken eines solchen tapferen, standhaften Volkes einen faulen Kompromiss zu schließen!"

Reuter, damals 59 Jahren alt, wusste genau, wovon er sprach: Von 1918 bis 1922 war er selbst ein führender Funktionär der Bolschewiki und der KPD gewesen. Er kannte alle politischen Tricks der Kommunisten, hatte aber frühzeitig eingesehen, dass nicht eine Demokratie, sondern eine Parteidiktatur das Ziel dieser Ideologie war. Reuter wechselte in die SPD, erwarb sich als Verkehrsstadtrat Berlins große Verdienste um den U-Bahn-Bau, wurde 1931 Oberbürgermeister von Magdeburg und galt als Spitzenpolitiker. Die Nazis sperrten ihn ins KZ, doch 1935 konnte er in die Türkei emigrieren. Seit 1946 wieder in Berlin, war der überzeugte Antikommunist für die SED von Anfang an ein rotes Tuch.

Vor dem Reichstag empfahl er den Einheitssozialisten spitz und schmerzhaft: "Wir möchten der SED nur einen Rat geben: Wenn sie ein neues Symbol braucht, bitte, nicht den Druck der Hände, sondern die Handschellen, die sie den Berlinern anlegten." Schließlich formulierte Reuter offenbar aus dem Bauch heraus seinen berühmtesten Satz: "Ihr Völker der Welt..."

Die Volkspolizei schießt

Direkt nach der Kundgebung kam es am Brandenburger Tor zu Rangeleien. Ost-Berliner Teilnehmer der Kundgebung, die zurückkehren wollten, wurden von der Volkspolizei daran gehindert. Schließlich schossen die Ost-Berliner Polizisten, verletzten etwa ein Dutzend Menschen und töteten den erst 15-jährigen Wolfgang Scheunemann. Zahlreiche Demonstranten wurden festgenommen, darunter auch einige, die aus Protest die rote Flagge vom Brandenburger Tor geholt und öffentlich zerrissen hatten.

Die Botschaft von Reuters Rede ging um die Welt, wurde in britischen und amerikanischen Zeitungen mit Respekt aufgegriffen und führte dazu, dass die enormen Anstrengungen dieser Länder bei der Luftbrücke die nötige öffentliche Unterstützung bekamen.


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