Die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli sieht in Deutschland häufig eine einseitige und verzerrte Darstellung des Nahost-Konflikts – und kritisiert einen zunehmenden Rassismus gegen Palästinenser. „Von der deutschen Öffentlichkeit erfahren wir kaum Empathie und Solidarität, sondern Ausgrenzung, Misstrauen und immer öfter puren Hass“, sagte sie der Berliner „taz“. „Es tut auch weh zu sehen, dass so viele Menschen, die sonst laut sind, wenn es um Menschenrechte geht und darum, Grundrechte zu verteidigen, zu Gaza schweigen.“
Über den Krieg im Gazastreifen informiere sie sich vor allem über amerikanische, britische und arabische Medien. „Ich denke mir oft: In welcher Parallelwelt leben wir in Deutschland eigentlich? Viele Nachrichten kommen hier schlicht nicht vor, vieles ist einseitig und verzerrt“, kritisierte sie. Mit ihren oft einseitigen Tweets über den Gaza-Krieg löst die Politikerin selbst regelmäßig Kontroversen aus.
Die Tochter palästinensischer Geflüchteter sagte weiter, sie habe Verständnis gehabt für jüdische Freunde, die nicht in der Lage gewesen seien, Empathie für das Leid in Gaza zu empfinden. „Trotz meines eigenen Schmerzes konnte ich immer auch ihren Schmerz sehen“, betonte Chebli mit Blick auf den Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und den anschließenden Krieg im Gazastreifen. „Bei einigen Leuten offenbart sich aber ein antipalästinensischer Rassismus, der mich wirklich erschüttert.“
Die Verbrechen der Hamas habe sie „sofort klar verurteilt und deutlich gemacht, dass sie durch nichts zu rechtfertigen sind“.
„Wer aber heute, nach über 35.000 Toten, die meisten davon Kinder und Frauen, und all dem, was wir über die Kriegsführung und die Politiker in der israelischen Regierung wissen, immer noch blind Israel verteidigt und lediglich ‚aber Hamas‘ sagt, mit dem teile ich keine gemeinsamen Werte“, so ihr Fazit in dem Gespräch.
Zwei Identitäten, und das Gefühl, eine „stolze Deutsche“ zu sein
Darüber hinaus spricht die 45-jährige Mutter eines Sohnes auch über ihre eigene Familiengeschichte und ihre Beziehung zum deutschen Staat. Ihr Vater sei im Jahr 1970 aus dem Libanon nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern „stammen aus Orten, die in Israel liegen und die es heute nicht mehr gibt“. „Wie sehr viele Palästinenser, die 1948 aus ihrem Land geflohen sind oder vertrieben wurden, sind sie nie wieder an den Orten gewesen, in denen sie geboren wurden“, sagte sie weiter.
Der Heimat ihrer Eltern habe sich „immer stark“ verbunden gefühlt, auch ihre „palästinensische Identität“ sei „sehr ausgeprägt“. Die 45-Jährige sagte weiter: „Ich habe einst Politikwissenschaften studiert, weil ich hoffte, für eine internationale Organisation in einem unabhängigen Staat Palästina zu arbeiten. Auf der anderen Seite habe ich mich immer sehr deutsch gefühlt und war stolze Deutsche. Ich habe das nie als einen Widerspruch empfunden.“
Nun aber denke sie erstmals auch darüber nach, Deutschland zu verlassen: „Es gibt in der Tat viele Menschen, die sich diese Frage stellen und mit dem Gedanken spielen, das Land zu verlassen. Auch ich stelle mir diese Frage. Zumindest habe ich noch nie so stark an meinem Deutschsein, an meiner Heimat und an der Frage, ob mich dieses Land will, gezweifelt wie jetzt. Mein Deutschsein hat schon durch (Thilo, Anm. d. Red.) Sarrazin, die NSU-Affäre, die Islam-Debatten und den Anschlag von Hanau immer wieder Schrammen bekommen. Inzwischen ist aus einer Schürfwunde eine tiefere Verletzung geworden.“
Es fehle an „aufrichtigem Interesse“ an der muslimischen Community
Auch mit ihrer Partei, der SPD, fremdele sie in letzter Zeit. Auf die Frage hin, wie es ihr jetzt gehe mit der SPD, antwortete sie der „taz“: „Keine Wahl ist mir bisher so schwergefallen wie die letzte Europawahl, vor allem wegen der Haltung der SPD zu Gaza. Ich kenne so viele Menschen, die sonst immer die SPD gewählt haben, ihr dieses Mal aber die Stimme verweigert haben. Die SPD täte aus moralischen und realpolitischen Gründen gut daran, dies nicht einfach zu ignorieren.“
Aber auch die anderen Parteien hätten in den vergangenen Monaten Fehler gemacht. Ihre Kritik formulierte Sawsan Chebli so: „Es fehlt an aufrichtigem Interesse, an Gesprächen auf Augenhöhe und auch an Achtung von religiöser Vielfalt jenseits von Sonntagsreden. Da ist das kollektive Wegsehen bei antimuslimischem Rassismus und die entmenschlichende Art, wie die Politik über Migration spricht. In der muslimischen und arabischen Community ist viel Vertrauen verloren gegangen.“
Das merke sie auch im persönlichen Gespräch, so Chebli weiter. „Ich habe mit jungen Leuten geredet, die politisch engagiert waren und die jetzt sagen: Ich will mit dieser Politik nichts mehr zu tun haben. Da wächst eine Generation heran, die sich abwendet, sich nicht gesehen fühlt und verletzt ist“, warnte sie.
Chebli war von 2014 bis 2016 stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amtes und anschließend bis 2021 in der Berliner Senatskanzlei Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales. 2023 erschien ihr Buch „Laut. Warum Hatespeech echte Gewalt ist und wie wir sie stoppen können“.