WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Deutschland
  4. Migration: EU findet keine Erkenntnisse über Rattenbisse auf Lesbos

Deutschland Griechische Inseln

Rattenbisse im Migrantencamp? Die EU zeichnet ein anderes Bild

Politikredakteur
Das Camp Kara Tepe auf Lesbos Mitte Dezember Das Camp Kara Tepe auf Lesbos Mitte Dezember
Das Camp Kara Tepe auf Lesbos Mitte Dezember
Quelle: AFP via Getty Images/ANTHI PAZIANOU
Entwicklungsminister Müller beklagt, dass Babys auf Lesbos von Ratten gebissen würden. Eine Task-Force der EU-Kommission findet dafür keine Anhaltspunkte – die Zustände hätten sich tatsächlich deutlich verbessert. SPD, Grüne und Linke sehen die Lage aber ganz anders.

Nirgendwo in der Europäischen Union werden Flüchtlinge und andere Migranten in großer Zahl und über längere Zeiträume schlechter untergebracht als auf den griechischen Inseln. Zu den zahlreichen Hinweisen von Hilfsorganisationen über die Missstände gesellen sich aber auch immer wieder Übertreibungen.

So hatte kurz vor Weihnachten Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) in einem Interview mit der „Passauer Neuen Presse“ behauptet, die Versorgung auf der Insel Lesbos sei inzwischen noch prekärer als in dem alten abgebrannten Lager Moria: „Das neue Lager Kara Tepe ist offensichtlich nicht besser – im Gegenteil: Ärzte ohne Grenzen musste jetzt eine Tetanus-Impfaktion starten, weil Babys in nassen Zelten von Ratten gebissen werden.“

Mitte Dezember hatte auch schon die Linke-Abgeordnete Ulla Jelpke im Bundestag gesagt, „die häufigsten Verletzungen von Kindern auf Lesbos“ seien „durch Rattenbisse“ verursacht.

Nachdem sich infolge des Müller-Interviews die Nachricht von den Rattenbissen auf Lesbos weit verbreitet hatte, wurde sie von der griechischen Regierung dementiert. Die Vorfälle seien erfunden, teilte Migrationsminister Notis Mitarakis mit. Es sei nicht das erste Mal, dass Medien die Realität verzerrten und sich absichtlich oder auch unabsichtlich an einer Kampagne gegen Griechenland beteiligten.

Weil aber die griechische Regierung in der Vergangenheit mehrmals die teilweise inhumanen Zustände auf Lesbos heruntergespielt hatte, ging auch die EU-Kommission noch einmal der Sache nach. In einem Bericht der zuständigen EU-Task-Force für Lesbos an die Bundesregierung, der WELT vorliegt, heißt es dazu: „Die kürzlich in einigen Medien erschienenen Berichte über Rattenbisse an Kindern konnten nicht bestätigt werden.“ Das provisorische Flüchtlingslager Kara Tepe lasse „sich in keiner Hinsicht mit dem vorigen Camp in Moria vergleichen, die Bedingungen sind ungleich besser“.

Positives Fazit der EU

Die EU-Zuständigen zeichnen, anders als viele Nichtregierungsorganisationen, ein recht positives Bild von der Lage auf Lesbos: Die rund 1000 Wohnzelte und 16 in Wohneinheiten unterteilten Großzelte, die seit dem Brand des völlig überfüllten Lagers Moria Anfang September aufgestellt wurden, seien „alle winterfest gemacht und haben einen festen Boden, der auch gegen Wasser abgesichert ist“.

Es seien mit Plastikplanen überzogene Holzpaletten unter die Zelte gelegt und auf dem ganzen Areal ein Regenwasser-Management aufgebaut worden – mit Sammelbecken, Pumpen und Kanälen, um das Wasser von Zeltplätzen wegzubringen.

Nahe dem früheren Camp Moria stehen Frauen Mitte Januar in einer Schlange, um Essen zu bekommen, das...
Nahe dem früheren Camp Moria stehen Frauen Mitte Januar Schlange, um Essen zu bekommen, das …
Quelle: pa/NurPhoto/Nicolas Economou
… von Helfern der NGO Team Humanity verteilt wird
... von Helfern der NGO Team Humanity verteilt wird
Quelle: pa/NurPhoto/Nicolas Economou

Die Zeltplanen seien „doppelt und dreifach verstärkt, sowohl gegen Kälte als auch Regen“, schreibt die Lesbos-Task-Force. Zur Beheizung der Zelte stünden „geeignete Heizstrahler“ zur Verfügung, „mindestens einer pro Familie“.

Lesen Sie auch

Es gebe für die immer noch rund 7000 Menschen im Lager, darunter ein Drittel Kinder, „derzeit über 400 Toiletten und circa 180 Duschen, was ungefähr den internationalen Standards für provisorische Flüchtlingscamps“ entspreche. Für Sicherheit sorgten rund 300 griechische Polizisten, die auch in der Nacht patrouillierten, zudem seien die Straßen im Camp ausreichend beleuchtet.

Anzeige

Zur Sicherheit trage auch bei, dass die Zelte in Zonen aufgeteilt seien. Zum einen nach Herkunft der Bewohner, und zum anderen lebten Familien, allein reisende Frauen sowie allein reisende Männer in jeweils eigenen Zonen.

Zwar sei die „Unterbringung in Zelten nicht ideal“, doch die griechischen Behörden leisteten gemeinsam mit der EU-Kommission, internationalen Organisationen wie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR sowie privaten Hilfsorganisationen „das Menschenmögliche, um unter den gegebenen Umständen die Lebenssituation der Bewohner so gut und erträglich wie möglich zu gestalten“.

Lesen Sie auch

Bald werde die „Übergangslösung“ mit dem aktuellen Camp beendet. „Wir rechnen mit einem Baubeginn spätestens im April 2021, Fertigstellung nach dem Sommer“. Allerdings gebe es nach wie vor große Widerstände unter der „Bevölkerung vor Ort, die sich nach fünf Jahren an vorderster Front wünscht, ankommende Flüchtlinge nur noch sehr kurzfristig unterzubringen.“

Auch bezüglich der übrigen „Hotspot“-Inseln Chios, Leros, Kos und Samos habe die griechische Regierung mit der EU-Kommission eine Einigung unterzeichnet, die die „Errichtung fester, allen europäischen Standards entsprechenden Lager im Jahr 2021 vorsieht“. Die EU-Kommission übernehme die Finanzierung.

Linke Parteien und NGOs rügen die Zustände

Anders als die EU-Kommission halten viele Hilfsorganisationen und Politiker die Lage auf Lesbos für nicht menschenwürdig. Rund um Weihnachten hatten 243 Bundestagsabgeordnete, vor allem von den Grünen, der Linkspartei und der SPD, einen gemeinsamen Appell an die Bundesregierung gerichtet, mehr Migranten von dort aufzunehmen. „Die humanitäre Situation im neuen Übergangslager Kara Tepe ist laut übereinstimmenden Berichten von Menschenrechtsorganisationen deutlich schlechter als im Camp Moria“, schrieben sie.

Mathias Middelberg (CDU), der innenpolitische Sprecher der Union im Bundestag, sagte WELT: „Die Unterbringung in der provisorischen Einrichtung ist nicht wirklich gut, aber besser, als manche Medien das darstellen.“ Es bestehe keine Überbelegung, und die Zelte seien winterfest gemacht worden. „Der richtige Ansatz bleibt, klar auf Hilfe vor Ort zu setzen und Athen intensiv zu unterstützen. Migranten und Flüchtlinge nach Deutschland einzufliegen, sobald irgendwo auf unserem Kontinent eine Notlage entsteht, ist keine nachhaltige Lösung.“

Solche Notlagen bestehen laut Einschätzung mehrerer Nichtregierungsorganisationen auf der griechischen Insel Samos. Beispielsweise berichtete die Organisation Ärzte ohne Grenzen schon im Oktober, dass im dortigen Lager Vathy Migranten „wie Tiere auf engstem Raum“ untergebracht seien, mehr als 1000 Kinder lebten „im Müll zwischen Ratten und Skorpionen“. Auch Fachleute in den Ministerien gehen von sehr prekären Zuständen auf den Inseln Samos und Chios aus.

Anzeige

Dabei erhält Griechenland seit Jahren massive Unterstützung von außen, mehr als 2,6 Milliarden Euro flossen seit 2016 allein aus EU-Töpfen für die Unterbringung der Migranten und deren Asylverfahren an Athen. Das ist im Verhältnis zur Zahl der Aufgenommenen mehr, als jedes andere Land weltweit pro Kopf bekommen hat.

Auf den griechischen Inseln musste Athen in den vergangenen Jahren meist um die 20.000 Migranten versorgen. Aktuell sind es rund 17.000, auf dem Höhepunkt vor einem Jahr waren es 42.000. Anders als häufig behauptet, werden die Migranten meist nach einigen Monaten aufs Festland gebracht, von wo die Mehrheit früher oder später nach Norden weiterreist.

Beispielsweise waren auch im Jahr 2020 die Hauptherkunftsstaaten der insgesamt 103.000 Asylerstantragsteller in Deutschland Syrien, Afghanistan, der Irak und die Türkei. Migranten dieser Nationalitäten reisen überwiegend über Griechenland in die EU.

„Erwarten, dass die Türkei die Rückführung akzeptiert“

Seit 2015 setzten laut UN mehr als 1,1 Millionen Migranten aus der Türkei auf die Inseln über. Heute lebt von ihnen nur noch ein Bruchteil dort oder anderswo in Griechenland. Von den Inseln zurück in die Türkei wurden seit dem EU-Türkei-Abkommen 2016 weniger als 3000 Migranten gebracht, seit Beginn der Corona-Krise niemand mehr. Deswegen forderte die griechische Regierung die EU in der vergangenen Woche auf, für die „sofortige Rückkehr“ von fast 1500 abgelehnten Asylbewerbern Druck auf die Türkei auszuüben.

Die Aufforderung sei der EU-Kommission und der EU-Grenzschutzbehörde Frontex zugeschickt worden, teilte das griechische Ministerium für Migration und Asyl am Donnerstag mit. Es gehe um Migranten ohne Schutzstatus aus den Lagern auf Lesbos, Samos, Chios und Kos. Die Türkei verweigere wegen der Corona-Pandemie die Rücknahme, teilte das Migrationsministerium mit. „Wir erwarten, dass die Türkei die Rückführung von Migranten auf der Grundlage der gemeinsamen Erklärung mit der EU akzeptiert“, sagte Migrationsminister Mitarakis.

Lesen Sie auch

Im März 2016 hatten die EU und die Türkei vereinbart, dass Migranten ohne Schutzgrund in Griechenland von den Inseln zurück in die Türkei gebracht werden können. Im Gegenzug beteiligte sich die EU mit bisher sechs Milliarden Euro an der Versorgung der in der Türkei lebenden Syrer.

Der Bosporusstaat hat in den vergangenen Jahren rund 3,5 Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus seinem Nachbarland aufgenommen. Obwohl seit einigen Jahrzehnten zunehmend Fluchtmigration in weit entfernte Länder stattfindet, bleiben die allermeisten Schutzsuchenden nach wie vor in sicheren Regionen des eigenen Landes oder in angrenzenden Staaten. Nur ein relativ kleiner Teil zieht von dort in weit entfernte Staaten oder gar auf andere Kontinente weiter.

Obwohl die Überfahrten und damit auch die Todesfälle in der Ägäis seit März stark zurückgegangen waren, kommen dort immer noch Menschen ums Leben. Erst am Dienstagmorgen hatte die griechische Küstenwache bei Temperaturen um den Gefrierpunkt am Strand von Lesbos einen Toten geborgen, der mit 27 überwiegend aus Somalia stammenden Migranten aus der Türkei gekommen war. Er war bei Temperaturen unter null Grad Celsius offenbar erfroren. Die Überlebenden wurden ins Krankenhaus der Stadt Mytilene gebracht.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema