Nach Schätzungen des ADAC könnten viele Bußgeldbescheide ungültig sein. „Es ist davon auszugehen, dass seit Inkrafttreten der StVO-Änderungen etwa eine Million Verkehrsverstöße begangen wurden, wobei rund 100.000 mit einem Fahrverbot belegt sein dürften“, sagte Markus Schäpe, Leiter der juristischen Zentrale des ADAC, der „Bild am Sonntag“.
Viele dieser Verfahren dürften jedoch ohnehin noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sein, teilte der ADAC auf Nachfrage von WELT mit. Das liege daran, dass zunächst ein Anhörungsbogen verschickt wurde oder der Bußgeldbescheid erst vor wenigen Tagen erlassen worden ist. Möglicherweise sei auch die 14-tägige Einspruchsfrist noch nicht abgelaufen oder es wurde bereits Einspruch gegen den Bußgeldbescheid eingelegt.
Der seit Ende April gültige Bußgeldkatalog sieht neue, härtere Sanktionen für Raser vor, doch mehrere Bundesländer setzen den Vollzug wegen eines Formfehlers aus. 14 von 16 Bundesländern sind bereits zum alten Bußgeldkatalog zurückgekehrt. Bremen will nach Informationen der „Bild am Sonntag“ noch abwarten, Thüringen will sich weiter an den neuen Bußgeldkatalog halten.
Untragbare Situation für Verkehrsteilnehmer
Für ADAC-Verkehrspräsident Gerhard Hillebrand ist die Lage „inakzeptabel“: „Insgesamt ist die entstandene Situation ein untragbarer Zustand: Eine unterschiedliche Vorgehensweise der Länder wäre inakzeptabel. Es muss jetzt sofort zu einem bundeseinheitlichen Vorgehen kommen“, teilte er WELT mit.
Der Bund hatte die Länder zuvor aufgefordert, die Neuregelungen wegen eines „fehlenden Verweises auf die notwendige Rechtsgrundlage“ auszusetzen. Nach dem neuen Bußgeldkatalog droht ein Monat Führerscheinentzug, wenn man innerorts 21 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt oder außerorts 26 Stundenkilometer zu schnell – zuvor galt dies bei Überschreitungen von 31 km/h im Ort und 41 km/h außerhalb.
Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) war wegen des Bußgeldkataloges in die Kritik geraten. Scharf attackiert wurde er unter anderem von Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD). Dass die neuen Regelungen wegen rechtlicher Unsicherheiten wieder rückgängig gemacht werden sollen, bezeichnete dieser als Rolle rückwärts. Sie sei vielleicht nicht überraschend, „aber in der Form schon sehr durchsichtig und dreist“, sagte Pistorius dem „Tagesspiegel“. „Besondere Chuzpe braucht es, die Schlamperei in der Umsetzung der Verordnung zu nutzen, um eine unliebsame Regelung auszuhebeln.“
Fahrverbot für Motorräder?
Der Bußgeldkatalog ist nicht die einzige Baustelle in Scheuers Ressort: Die Bundesländer hatten sich zudem Mitte Mai dafür eingesetzt, dass Fahrzeuge weniger Lärm verursachen sollen. So sollen die zulässigen Geräuschemissionen auf einen Wert begrenzt werden, der in etwa der Lautstärke eines vorbeifahrenden Lkw oder eines Rasenmähers entspricht.
Der Bundesrat will zudem beschränkte Motorradfahrverbote an Sonn- und Feiertagen ermöglichen. Die Bundesregierung entscheidet, ob sie die Anregung der Länderkammer umsetzen will. Viele Tausend Motorradfahrer hatten bundesweit dagegen demonstriert.
Scheuer sieht den Beschluss jedoch kritisch. Er hatte sich gegen weitere Verbote für Motorradfahrer ausgesprochen. Das Bundesverkehrsministerium bekräftigte am Samstag die Position und verwies auf Aussagen Scheuers, dass er „keine weiteren Verbote und Verschärfungen für Motorradfahrer“ wolle. „Wir haben ausreichende geltende Regeln“, sagte Scheuer. „Die Biker zeigen bei den Protesten ihre Haltung gegen Verschärfungen und Verbote. Das ist auch meine Haltung. Ich werde die Beschlüsse des Bundesrates, also der Bundesländer, nicht umsetzen.“
Das Bundesverkehrsministerium erklärte auf Anfrage, die zuständigen Straßenverkehrsbehörden könnten die konkrete Lage vor Ort am besten einschätzen und aus Lärmschutzgründen im Einzelfall entsprechende Maßnahmen anordnen. Sie hätten zum Beispiel bereits jetzt die Möglichkeit, die Benutzung bestimmter Straßen oder Straßenstrecken zu beschränken oder den Verkehr umzuleiten.