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Stasi wusste fast alles über West-Berlins Polizei

Leitender Redakteur Geschichte
Absperrungsmassnahmen am Brandenb.Tor - Barbed-wire barricades/Berlin Wall/1961 - Fil de fer barbele a la Porte de Brandeb Absperrungsmassnahmen am Brandenb.Tor - Barbed-wire barricades/Berlin Wall/1961 - Fil de fer barbele a la Porte de Brandeb
Zwei West-Berliner Polizisten schützen die Mauer vor dem Brandenburger Tor mit Stacheldraht gegen empörte West-Berliner. Die Stasi überwachte die West-Berliner Polizei intensiv, oh...ne jedoch in die innere Führung vordringen zu können
Quelle: picture-alliance / akg-images/akg
Die West-Berliner Polizei war stärker als vermutet von der Staatsicherheit der DDR unterwandert. Einen zweiten Superspion wie Kurras aber gab es nicht.

Die DDR-Staatssicherheit (MfS) wusste nahezu alles, was sie über die West-Berliner Polizei wissen wollte. Jedoch gab es kein zweiten Superspion wie den 2009 enttarnten Spitzel Karl-Heinz Kurras. Auch auf inhaltliche Entscheidungen der Polizeiführung im freien Teil der zerrissenen Stadt konnte der SED-Geheimdienst keinen nennenswerten Einfluss ausüben – jedenfalls bis 1972.

Das sind die zentralen Ergebnisse eines Zwischenberichts, den Berlins demnächst scheidender Polizeipräsident Dieter Glietsch jetzt vorgestellt hat. Erarbeitet wurden sie von einer Wissenschaftlergruppe des Forschungsverbundes SED-Staat um Klaus Schroeder und Jochen Staadt. Sie waren nach der Kurras-Enthüllung beauftragt worden, die Einflussnahme des MfS auf die West-Berliner Polizei zu untersuchen.

180 Bände über West-Berliner Polizei

Die Historiker stellten ihre Erkenntnisse bewusst zurückhaltend dar und hielten fest, völlig unbeeinflusst gearbeitet zu haben. Gleichwohl räumten sie ein, dass mehr als die Hälfte der zwischen 1950 und 1972 tätigen Spitzel bis jetzt noch nicht identifiziert werden konnten.

Kurz nach der sensationellen Nachricht vom Mai 2009, dass ausgerechnet der Todesschütze von Benno Ohnesorg, der seit dem 2. Juni 1967 stets eine Hassfigur der westdeutschen und besonders West-Berliner Linken gewesen war, in Wirklichkeit Kommunist und bezahlter Agent war, hatte die damalige Stasi-Unterlagenbeauftragte Marianne Birthler in einer Fernsehsendung bekanntgegeben, dass allein über die West-Berliner Polizei ein 180 Bände umfassender „Operativvorgang“ in den Archiven der Stasi enthalten sei .

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Daraufhin hatte Dieter Glietsch umgehend den Auftrag gegeben, dieses Material umfassend zu erforschen, wobei noch einmal weiteres Material in ähnlichem Umfang erschlossen werden konnte. Zum Vergleich: Das Material über Kurras selbst und über seine Kontaktleute umfasste nur ein Zehntel der jetzt untersuchten Menge. Die Beschränkung auf die Zeit bis 1972 war sachlich geboten, weil danach ein Wechsel bei der Zuständigkeit innerhalb der Stasi eintrat; während der Präsentation gab Glietsch jedoch bekannt, dass eine Fortsetzungsstudie bei Schroeder und Staadt in Auftrag gegeben worden sei.

Bis 1972 hatte die Stasi die West-Berliner Polizei recht gut im Griff. Im Durchschnitt gab es immer zwischen zehn und zwanzig verschiedene Spitzel, die aus verschiedensten Bereichen des Polizeiapparates oder aus seiner unmittelbaren Nähe berichteten. Die Dauer dieser Tätigkeit war sehr unterschiedlich – zwischen wenigen Monaten und über einem Jahrzehnt wie bei Kurras selbst . Das Hauptinteresse des MfS war stets die Organisation der West-Berliner Polizei, ihre Ausstattung mit Waffen und ihre Vorbereitungen auf einen eventuellen militärischen Konflikt um West-Berlin. Die Gesamtzahl der insgesamt bis 1972 für das MfS tätigen Spitzel konnte bisher nicht festgestellt werden, da eben viele Decknamen noch nicht aufgelöst sind und nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich dieselbe Person hinter mehreren Tarnungen verbarg.

Gehaltslisten und Telefonverzeichnisse von West-Berliner Beamten

In den MfS-Unterlagen sind auch Gehaltslisten von West-Berliner Beamten gefunden worden; Telefonverzeichnisse und Grundrisse von Polizeidienststellen ohnehin. Auch Schlüssel zu manchen Revieren hatte das MfS sich für den Tag X organisiert.

Aus den Unterlagen werde nicht ganz klar, so die Historiker, ob die Stasi tatsächlich einen Angriff von West-Berlin aus erwartet hat, der in Wirklichkeit ja nie zur Debatte stand; sicher ist dagegen, dass sie sich ihrerseits intensiv darauf vorbereitete, selbst die Kontrolle über West-Berlin zu übernehmen. Dazu wurden alle Polizeireviere fotografiert, Autokennzeichen von Polizisten festgehalten, teilweise ihre Privatwohnungen observiert. „Stasi-Streetview“ nannte Jochen Staadt diesen Teil der MfS-Arbeit ironisch. Der Führungsoffizier von Karl-Heinz Kurras, der Stasi-Major Werner Eiserbeck, sollte zum Beispiel im Falle einer Besetzung der westlichen Sektoren Berlins die neu einzurichtende Kreisdienststelle im innenstadtnahen Bezirk Schöneberg leiten. Dazu kam es bekanntlich nicht.

Anfällig für den Verrat: Bezirk Spandau und Reinickendorf

Einige Bereiche der West-Berliner Polizei waren stärker durchsetzt als andere. Ein ganzes Netzwerk von Spitzel gab es zum Beispiel im Bezirk Spandau, auch Reinickendorf war besonders anfällig für den Verrat. Dagegen verfügte das MfS in Kreuzberg nie über nennenswerte Quellen. Ein besonderes Augenmerk legte das MfS auf das Notaufnahmelager Marienfelde. Mehrere Spitzel berichteten von hier aus intensiv über Flüchtlinge, vor allem über desertierte Volkspolizisten. Solche Berichte hatten in aller Regel Überprüfungen von noch in der DDR lebenden Verwandten zur Folge und konnten sich auf deren Leben sehr negativ auswirken.

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Die Motive der Spitzel veränderten sich mit der Zeit deutlich. Anfangs, also bald nach der Spaltung der Gesamtberliner Polizei in West und Ost im Zuge der Blockade 1948, gab es im Westen noch viele Sympathisanten von KPD oder SED, die im Polizeidienst weitermachten und insgeheim vertrauliche Erkenntnisse nach Ost-Berlin meldeten. Später standen dann materielle Anreize im Vordergrund. So gab es etwa einen älteren Polizisten, dessen Sohn, ebenfalls auf einem Revier tätig, sich gerade ein Haus baute. Der Vater beschaffte aus unbekannter Quelle Geld – und führte seinen Sohn langsam an die Erkenntnis heran, dass Ost-Berlin für sein Eigenheim bezahlte. Die Summen, die gezahlt wurden, waren für damalige Verhältnisse erheblich und gingen in die hunderttausende West-Mark – für die devisenschwache DDR ein erheblicher Aufwand, der illustriert, wie groß die Bedeutung war, die der Überwachung der West-Berliner Polizei zugestanden wurde.

Ergänzen Wissen um den Kalten Krieg

Die Anschlussstudie, so viel deutete Jochen Staadt an, könnte noch bedeutendere Ergebnisse bringen. In den ab Anfang der siebziger Jahren in großem Umfang erhaltenen Abhörprotokollen lag offenkundig ein Schwerpunkt auf Ermittlungen der West-Berliner Behörden gegen Terroristen, darunter auch geplanten Fahndungseinsätzen und Durchsuchungen. Mindestens in einem Fall war bisher schon bekannt, dass Linksterroristen aufgrund eines Tipps aus Ost-Berlin einer Razzia entgingen. Es ist gut möglich, dass die Anschlussstudie erweist, dass es seitens des MfS bisher völlig unbekannte Unterstützung für die „Rote Armee Fraktion“ und „Bewegung 2. Juni“ gegeben.

Die Berliner Polizei ist mit dem jetzt vorgestellten Zwischenbericht die erste Institution des alten West-Berlin, die ihre eigene Rolle in der Wahrnehmung der DDR-Staatssicherheit wissenschaftlich hat untersuchen lassen. Klaus Schroeder, der mit zahlreichen Studien wesentlich zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit beiträgt, lobte Polizeipräsident Glietsch dafür ausdrücklich. Selbst wenn weitere Sensationen wie die Überführung von Karl-Heinz Kurras ausbleiben, ergänzen solche Arbeiten doch das Wissen um den Kalten Krieg erheblich. Juristische Konsequenzen jedoch wird es nicht geben. Alle jedenfalls bis 1972 betroffenen Personen sind längst pensioniert, viele schon lange verstorben. Ihre Straftaten dürften ohnehin überwiegend verjährt sein. Und nicht einmal bei Karl-Heinz Kurras hatten die Behörden Erfolg mit dem Versuch, seine Pension zu kürzen .

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