Wenn es nach den Europawahlen darum gehen wird, wer der wahre Verlierer ist, könnte diese unrühmliche Rolle Emmanuel Macron zufallen. Schon im Vorfeld gilt als sicher, dass Frankreichs Präsident nicht als Wahlsieger über die Ziellinie gehen wird. In Wahrheit geht es nur noch um die Frage, ob es halbwegs glimpflich abläuft und der Franzose das Ergebnis wird sportlich nehmen können oder ob er sich eine haushohe Niederlage einhandelt, die innenpolitisch Konsequenzen nach sich ziehen könnte.
Aus dem Retter Europas ist innerhalb von sieben Jahren ein lahmender Langstreckenläufer geworden, der in seinem eigenen Land nicht mehr damit punktet, wofür seine Politik von Anfang an stand: für ein starkes Europa. Wie konnte das geschehen? Grund ist eine Mischung aus Überheblichkeit und falschem politischem Kalkül vonseiten des Präsidenten. Aber vor allem handelt es sich um einen Denkzettel, den ihm die französischen Wähler verpassen wollen.
„Die Europawahlen werden mehr denn je als nationale Wahlen wahrgenommen“, sagt Brice Teinturier, Chef des Umfrageinstituts Ifop und einer der besten Kenner der politischen Stimmung in Frankreich, „als eine Form französischer midterms.“ Nur die Hälfte der Wahlberechtigten, so Teinturiers Prognose, wird überhaupt zur Wahl gehen.
Ein Großteil davon werde die EU-Wahlen nutzen, um Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck zu bringen, die eine schmerzhafte Renten- und Arbeitslosenreform durchgedrückt hat und für einen Anstieg des Strompreises von 40 Prozent innerhalb von zwei Jahren verantwortlich gemacht wird, sodass der Verlust der Kaufkraft zum Wahlkampfthema Nummer eins geworden ist.
Auch Macrons Überlegung, französische Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, stößt auf Ablehnung. Hinzu kommen schwere Unruhen im Überseegebiet Neukaledonien, Nachrichten wie die blutige Befreiung eines Verbrecherbosses während eines Gefangenentransports und nicht zuletzt die historisch hohe Staatsverschuldung, die für ein Gefühl von Staatsversagen und Autoritätsverlust sorgen.
Europakritiker in Umfragen vorne
Strahlender Sieger wird voraussichtlich Jordan Bardella werden, Spitzenkandidat des national-populistischen Rassemblement National (RN). Der 28-Jährige hat diese Wahlen geschickt zu einem „Referendum gegen Macron“ erklärt und die proeuropäische Liste des Präsidenten förmlich überflügelt. Werden die jüngsten Umfragen wahr, könnte der politische Ziehsohn von Marine Le Pen 33,5 Prozent der Stimmen erhalten und mit weitem Abstand alle anderen schlagen.
Macrons Kandidatin, die selbst in Frankreich weitgehend unbekannte Valérie Hayer, hat in den Umfragen kurz vor der Wahl weiter verloren und wird aller Voraussicht nach weniger als halb so viele Stimmen wie Bardella erhalten.
Mit nur noch rund 15 Prozent liegt Hayer sogar nur einen knappen Punkt vor Raphaël Glucksmann, der eine sozialdemokratische Koalition anführt. Sollte es dem linken Überraschungskandidaten gelingen, Macrons Liste zu schlagen und auf den dritten Platz zu verweisen, wäre das eine Demütigung, die sich Macron sicher gern erspart hätte.
Das gute Abschneiden der Nationalisten bei den Europawahlen in Frankreich ist nicht neu. Le Pens Front National, später umgetauft zum Rassemblement National, ist seit 2012 die Partei, die regelmäßig als stärkste aus den EU-Wahlen hervorgeht. 2019 lag sie einen Punkt vor Macrons Liste. Neu ist, dass die Partei als „Dampfwalze“ Richtung Sieg rollt, wie es der Politologe Jérôme Jaffré formuliert.
Der national-patriotische, antieuropäische Block aus drei Parteien (RN, Reconquête und Patriotes) lag 2019 bei 27 Prozent, an diesem Sonntag könnte er 40 Prozent der Stimmen bekommen. Zählt man die antieuropäischen Voten im rechts- und linkspopulistischen Spektrum zusammen, könnte der Block aus EU-Gegnern sogar 53 Prozent der Stimmen erhalten. „Das wäre das erste Mal bei einer Europawahl seit 1979“, resümiert Jaffré.
Der Politikwissenschaftler erklärt das so: „Die Franzosen werfen der EU vor, keine wahren Grenzen zu haben, weshalb sie die Einwanderung nicht ausreichend zu kontrollieren vermag. Außerdem wird sie wegen der starken Inflation für den Verlust der Kaufkraft verantwortlich gemacht. Und die Kommission wird wegen der stetig wachsenden Zahl von Normen und Zwängen nur als bürokratisch wahrgenommen.“
Also europäisch fühlen, aber antieuropäisch wählen? Man kann das getrost als einen typisch französischen Widerspruch empfinden – wie fröhlich Rotweintrinken, Steak essen und doch älter werden als die Nachbarn. Denn alle Umfragen der vergangenen Jahre weisen darauf hin, dass die Franzosen proeuropäischer geworden sind. Mit anderen Worten: Sie halten die EU für überlebenswichtig, aber empfinden sie trotzdem als übermächtig oder titulieren sie wie Marine Le Pen als „totalitär“.
Kurswechsel in der EU-Politik
Macron mag durch harte Sozialreformen und ein neues Einwanderungsgesetz viele linke Wähler verloren haben. Der Erfolg des RN erklärt sich aber vor allem durch einen Kurswechsel. Statt Frexit und Rückkehr zum Franc will die Rechtspopulistin Le Pen heute eine starke identitäre Gruppe im Straßburger Parlament, um die EU von innen zu reformieren, wie sie behauptet.
„Seien wir nicht wie die Briten, die am Ende über den Brexit weinen“, kontert Macrons Regierungschef Gabriel Attal. Le Pen täusche ihre Wähler, man müsse sich nur das Programm des RN anschauen: „Sie wollen den Binnenmarkt nicht respektieren, Frankreichs Mitgliedsbeitrag nicht bezahlen und einen Großteil der Verträge missachten. Das heißt, de facto, die EU zu verlassen“, so Attal.
Bedeutet ein haushoher Sieg des RN bei den Europawahlen, dass Le Pen die Präsidentschaftswahlen 2027 gewinnen könnte? „Solche Rückschlüsse drei Jahre vor den Wahlen zu ziehen, wäre völlig absurd“, sagt Politologe Teinturier. Allerdings macht er eine beträchtliche Erweiterung des Wählersockels des RN aus, sowohl was die soziologische Zusammensetzung als auch die Altersgruppen angeht. „Der RN dominiert in allen Gruppen, nur nicht bei den über 70-Jährigen, wo er mit der Renew-Liste Macrons gleichauf liegt.“
Die Normalisierung der Partei scheint somit abgeschlossen. Einer ihrer Vordenker ist Louis Aliot, lange Parteivize, Bürgermeister von Perpignan und ehemaliger Lebensgefährte Le Pens. „Für unsere Partei Wahlkampf zu machen, ist heute tausendmal einfacher als für andere wie beispielsweise für die Sozialisten“, sagt Aliot bei einer Begegnung in der Brasserie „Le Bourbon“, dem Pariser Politikertreffpunkt gegenüber der französischen Nationalversammlung.
„Wir gehen von Tür zu Tür, wir sind auf den Märkten präsent und niemand kommt auf die Idee, aggressiv zu werden oder uns anzugreifen“, versichert Aliot. Eine Kehrtwende verglichen mit seinen eigenen Erfahrungen als junger Politiker.
Der Kurs des RN ist klar. Vom Rand geht es zielstrebig Richtung Mitte. Statt sich auf eine radikale Minderheit zu beschränken und eine klassische Protestpartei zu bleiben, haben sich Frankreichs Rechtspopulisten von den alten Frexit-Fantasien verabschiedet. Damit vermag der RN nicht nur Einfluss auf die EU zu nehmen, sondern womöglich bald im eigenen Land regieren.