Auf den ersten Blick wirkt die Messerattacke von Mannheim wie ein trauriger Einzelfall. Bei einer Veranstaltung des islamkritischen Vereins Pax Europa werden sechs Menschen verletzt, ein Polizist stirbt an den Folgen seiner Verletzungen. Das Motiv des Täters ist noch unbekannt, erste Erkenntnisse deuten auf einen islamistischen Hintergrund hin. Zuvor hatte der Verein um den Vorsitzenden Michael Stürzenberger Kampagnen gegen den Islam organisiert und sich dabei teils polemischer Rhetorik bedient.
Auf den zweiten Blick reiht sich die Tat ein in eine lange Geschichte von Angriffen gegen islamkritische Politiker, Künstler und Intellektuelle in ganz Europa. Ein Blick zurück offenbart mindestens sechs weitere Fälle, die sich im Detail zwar unterscheiden. Ein Muster ist aber bei allen zu erkennen: Wer sich provokant gegen den Islam äußert, droht ins Visier von Islamisten und ihren Unterstützer zu geraten.
6. Mai 2002: Anschlag auf Pim Fortuyn
Vor 22 Jahren wurde der niederländische Politiker Pim Fortuyn im Alter von 54 Jahren erschossen. Der Attentäter hatte Fortuyn nach einem TV-Interview aufgelauert und mit fünf Schüssen in Kopf, Brust und Hals getötet. Die Tat fand wenige Tage vor den niederländischen Parlamentswahlen statt, bei denen Fortuyn als Spitzenkandidat der „Liste Pim Fortuyn“ angetreten war.
Seine kurze politische Karriere war geprägt von Tabubrüchen und Polemik. Er vertrat ausländerfeindliche Positionen und hatte im Wahlkampf gefordert, die Grenzen für Einwanderer aus muslimischen Ländern zu schließen. Aus seiner vorherigen Partei war er ausgeschlossen worden, weil er Artikel 1 der niederländischen Verfassung abschaffen wollte, das Antidiskriminierungsgesetz. Fortuyn bekam nach eigenen Angaben regelmäßig Morddrohungen, unter Personenschutz stand er jedoch nicht.
Der Attentäter war ein 32-jähriger Niederländer aus der Umweltbewegung. Er gab im Prozess an, durch den Mord an Fortuyn habe er „Muslime schützen“ wollen, die der Politiker als „Sündenböcke“ genutzt habe. In den Niederlanden hat das Attentat für Entsetzen gesorgt – auch, weil es die lange Tradition der Toleranz und Offenheit erschüttert hat. Die Tat hat in vielen Teilen Europas eine Diskussion über Meinungsfreiheit und Demokratie ausgelöst.
2. November 2004: Anschlag auf Theo van Gogh
Zwei Jahre später waren die Niederlande erneut Schauplatz eines Mordes. Im November 2004 wurde der niederländische Filmemacher Theo van Gogh auf offener Stra��e erstochen. Der Täter, ein radikaler Muslim, hatte zunächst auf van Gogh geschossen, ihm dann die Kehle durchgeschnitten und mit einem Messer ein Bekennerschreiben an die Brust geheftet.
Van Gogh war an dem Morgen seines Todes auf dem Weg ins Studio, um einen Film fertigzustellen – über den Mord an Pim Fortuyn. Der Filmemacher war ein Verfechter der uneingeschränkten Meinungsfreiheit und provozierte häufig mit Tabubrüchen. Den islamischen Glauben bezeichnete er als „aggressiv und rückständig“. Kurz vor seiner Ermordung hatte er den islamkritischen Film „Submission“ produziert, der die Unterdrückung der Frau in der islamischen Welt thematisiert.
Der Attentäter sagte im Prozess, er halte den Mord im Kampf gegen die „Ungläubigen“ für gerechtfertigt. Der damals 26-Jährige besaß sowohl die marokkanische als auch die niederländische Staatsbürgerschaft und war dem niederländischen Geheimdienst bereits bekannt. In den Niederlanden löste der Mord einen Ausnahmezustand aus. Mehrere Wochen lang wurden Kirchen und Moscheen im ganzen Land attackiert und Themen wie Migration, Leitkultur und Integration hitzig debattiert.
2010: Anschlag auf Kurt Westergaard, Mohammed-Karikaturen
Wenige Monate nach dem Mord an van Gogh löste der dänische Karikaturist Kurt Westergaard erneut eine Diskussion über die Grenzen der Kunstfreiheit aus. Die konservative Zeitung „Jyllands-Posten“ hatte im September 2005 mehrere Mohammed-Karikaturen abgedruckt – darunter eine von Westergaard, die den Propheten mit einer Bombe als Turban zeigte.
Die Zeichnung rief heftige Reaktionen hervor. In vielen islamischen Ländern brachen gewaltsame Proteste aus, auch mehrere dänische Botschaften wurden attackiert. Mehr als 100 Menschen starben. Auf Westergaard soll ein Kopfgeld in Höhe von elf Millionen Dollar ausgesetzt worden sein; er stand seitdem ständig unter Polizeischutz und musste immer wieder umziehen.
Im Jahr 2008 nahm der dänische Polizeigeheimdienst drei Männer fest, die einen Anschlag auf Westergaard geplant haben sollen. Zwei Jahre später drang ein Attentäter mit einer Axt in sein Haus ein. Westergaard blieb nur deshalb unverletzt, weil er sich rechtzeitig ins Badezimmer flüchten konnte, das zu einem Panikraum ausgebaut worden war. Laut Geheimdienst hatte der Angreifer Verbindungen zur Terrorgruppe al-Qaida.
Westergaard, der seit den 80er-Jahren Karikaturen für „Jyllands-Posten“ gezeichnet hatte, verteidigte die Veröffentlichung der Karikatur auch nach den Angriffen auf ihn stets unter Berufung auf die Meinungsfreiheit. Seine Werke wurden in mehreren Zeitungen in ganz Europa nachgedruckt – unter anderem in der französischen Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“.
7. Januar 2015: Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo
Das Attentat auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ ist in ganz Europa zum Symbol der Meinungsfreiheit geworden. Am 7. Januar 2015 drangen zwei schwerbewaffnete Männer in das Redaktionsgebäude des Satiremagazins ein und erschießen zwölf Menschen, darunter den Herausgeber, mehrere Zeichner und zwei Polizisten.
„Charlie Hebdo“ war seit Jahren bekannt für ihre provokanten Karikaturen, in denen vor allem religiöser Fundamentalismus thematisiert wird. Im Jahr 2011 veröffentlichte sie eine Sonderausgabe mit dem Titel „Charia Hebdo“; am selben Tag wurde ein Brandanschlag auf die Redaktion verübt. Das islamistische Magazin „Inspire“ schrieb Herausgeber Stéphane Charbonnier 2013 „zur Fahndung“ aus und schrieb dazu: „Eine Kugel am Tag schützt vor Ungläubigen“.
Die Attentäter vom 7. Januar waren die französischen Brüder Saïd und Chérif Kouachi. Einem Augenzeugen zufolge sollen sie gerufen haben: „Wir haben den Propheten gerächt“. Sie werden nach drei Tagen gefasst und von Sicherheitskräften getötet. Später bekennt sich ein Al-Qaida-Ableger zu dem Anschlag.
In ganz Europa demonstrierten Menschen in den folgenden Tagen für die Pressefreiheit, an einem Trauermarsch in Paris nahmen 1,5 Millionen Menschen teil. Der Hashtag „Je suis Charlie“ ging um die Welt. Die überlebenden Redaktionsmitglieder setzen die Arbeit von Charlie Hebdo fort – der Name steht bis heute sinnbildlich für die Freiheit von Kunst und Kultur.
14. Februar 2015: Anschlag auf den schwedischen Künstler Lars Vilks
Auch der schwedische Künstler Lars Vilks geriet durch Mohammed-Karikaturen ins Visier der Islamisten. Für eine Ausstellung hatte er 2007 mehrere Zeichnungen angefertigt, auf denen er den Kopf des Propheten auf den Körper eines Hundes gesetzt hatte. Gezeigt wurden die Karikaturen auf der Ausstellung nicht, wohl aus Sicherheitsbedenken. Allerdings druckte eine schwedische Lokalzeitung eine der Zeichnungen ab.
Wer eine wirkliche Debatte über Meinungsfreiheit und den Islam wolle, müsse provozieren, hatte Vilks später in einem Interview über seine Karikatur gesagt. Vilks erhielt nach der Veröffentlichung zahlreiche Morddrohungen und wurde unter Personenschutz gestellt, musste zwischenzeitlich sein Haus verlassen. Der Al-Qaida-Ableger im Irak setzte ein Kopfgeld von 150.000 Dollar auf ihn aus.
Seitdem wurden mehrere Angriffe auf ihn verübt. 2010 wurde er während einer Vorlesung an der Universität Uppsala angegriffen und leicht verletzt, im selben Jahr wurden Brandbomben in sein Haus geworfen. 2014 wurde ein zum Islam konvertierte US-Bürgerin wegen Mordplänen gegen Vilks verhaftet.
Am 14. Februar 2015 schoss ein Attentäter auf ein Kulturzentrum in Kopenhagen, in dem Vilks für eine Diskussionsveranstaltung zum Thema Kunstfreiheit und Islam zu Gast war. Vilks wurde nicht verletzt, allerdings wurde ein Zuschauer getötet. Die Ermittler gehen auch in diesem Fall von einem islamistischen Hintergrund aus. Vilks wollte sich von den Angriffen nicht beirren lassen: Kunst gehe mit Grenzüberschreitungen einher, war er überzeugt. Er kam Jahre später bei einem Verkehrsunfall ums Leben.
12. August 2022: Anschlag auf Salman Rushdie
Das jüngste Beispiel ist der Angriff auf den Schriftsteller Salman Rushdie. Im August 2022 wurde der damals 75-Jährige bei einer Veranstaltung im US-Bundesstaat New York auf der Bühne angegriffen und mit mehreren Messerstichen verletzt. Der Attentäter war der 24-jährige Amerikaner Hadi Matar, dessen Familie aus dem Libanon kommt. Er begründete seine Tat damit, dass Rushdie „ein Feind des Islams“ sei.
Schon 1989 hatte Irans geistliches Oberhaupt Ajatollah Khomeini zum Mord an Rushdie aufgerufen. Der Autor habe in seinem 1988 erschienenen Roman „Die Satanischen Verse“ den Islam und den Propheten Mohammed beleidigt. Rushdie versteckte sich danach jahrelang, um dem Todesurteil zu entkommen. Inzwischen lebt der Autor seit mehr als 20 Jahren in New York und hatte sich zuletzt in Sicherheit gefühlt – bis zu dem Tag vor zwei Jahren.
In iranischen Hardliner-Medien ist der Angriff auf Rushdie bejubelt worden. Eine Zeitung zeigte ein Bild des Autors und titelte: „Der Teufel auf dem Weg in die Hölle.“ Mehrere westliche Politiker gaben dem Iran eine Mitschuld an dem Angriff. Rushdie ist seit dem Attentat auf einem Auge blind und kann eine Hand nicht mehr bewegen. Im April veröffentlichte er ein Buch, in dem er das Erlebte verarbeitet.