Es ist ein sperriges Wort. Allerdings eines, an das sich polnische Regierungsangehörige mittlerweile gewöhnt haben dürften: „unionsrechtswidrig“. Erneut hat am Dienstag der Europäische Gerichtshof (EuGH) in diesem Sinn gegen einen Teil der sogenannten Justizreform in Polen geurteilt. Wie auch schon mit Blick auf die umstrittene Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau befand das höchste EU-Gericht, dass die Abordnung von Richtern in Polen nicht mit europäischen Rechtsnormen vereinbar sei.
Seit nunmehr fünf Jahren baut die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) das Justizsystem im Land um. Sie liegt deswegen mit der EU-Kommission über Kreuz. Experten zufolge besteht in Polen keine klare Gewaltenteilung mehr, der Rechtsstaat ist schwer beschädigt. Das jetzt vorliegende Urteil ist ein weiterer Beleg dafür. Konkret handelt es sich um sieben Rechtssachen (Bezeichnung C-748/19 bis C-754/19). Darin geht es darum, ob von der Regierung versetzte, also abgeordnete Richter in Polen unabhängig Recht sprechen können.
Was genau bedeutet das? Eine Abordnung ist erstmal als eine Beförderung zu verstehen. Wenn etwa ein Richter vom Warschauer Regionalgericht an ein Gericht höherer Ordnung, wie es heißt, versetzt wird, ist daran grundsätzlich nichts zu bemängeln. Eine solche Beförderung geht allerdings vom Justizminister aus. Es ist eine Praktik, die auch schon vor dem Justizabbau der PiS Bestand hatte. Solche Abordnungen sind zeitlich unbefristet, es bedarf dafür nicht einmal einer ausführlichen Begründung.
Ein Richter kann auch jederzeit zurückversetzt werden – durch eine einfache Entscheidung des Justizministers. Genau an dieser Stelle beginnt für die Luxemburger Richter das Problem. „Die Rolle des Justizministers ist entscheidend“, sagt Jakub Jaraczewski WELT. Er ist Rechtswissenschaftler an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznan und Programm-Koordinator der Nichtregierungsorganisation Democracy Reporting International.
Im Zuge des Justizabbaus erhielt der polnische Justizminister nämlich eine in der EU unvergleichliche Machtfülle. Sein Amt wurde mit dem des Generalstaatsanwalts zusammengeführt. Diese einflussreiche Position füllt in Polen seit 2015 Zbigniew Ziobro aus, ein Hardliner und Antreiber des Justizabbaus.
Die Konsequenz: Wenn ein Richter nicht im Sinne der Staatsanwaltschaft entscheidet, er etwa keine ausreichende rechtliche Begründung für eine angestrebte Hausdurchsuchung sieht, dann entscheidet er das unter Umständen gegen die Interessen der Person, die für seine Beförderung und mögliche Abberufung verantwortlich ist – gegen den Justizminister, der eben auch Generalstaatsanwalt ist.
Hier sehen die EuGH-Richter der Großen Kammer für die Dauer der Abordnung keine richterliche Unabhängigkeit garantiert. Dem Urteil nach ist nicht ausgeschlossen, dass dieses Abordnungssystem politisch missbraucht und zur „Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt“ werden kann.
Zweifel am polnischen Rechtsstaat kommen auch aus dem EU-Parlament. Die Abgeordneten fordern schon lange ein entschiedeneres Vorgehen der Kommission. „Die Justizreformen sind bewusste, politische Attacken auf den Rechtsstaat“, sagt Daniel Freund, Grünen-Abgeordneter im EU-Parlament und Mitglied im Ausschuss für konstitutionelle Fragen, im Gespräch mit WELT. „Das weiß auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie muss jetzt finanzielle Konsequenzen ziehen“, fordert der Abgeordnete.
Die Frage ist nun, wie die polnische Regierung auf diesen Richterspruch reagieren wird. Ein Urteil zur Disziplinarkammer und eine einstweilige Anordnung in dem Zusammenhang setzt sie nicht um. Täglich bricht sie damit EU-Recht – weswegen der EuGH im Oktober Finanzsanktionen gegen Polen verhängt hat. Täglich eine Million Euro müsste Warschau eigentlich zahlen, solange die Regierung die Anordnung nicht umsetzt. Auch werden weiterhin Milliarden aus dem Corona-Rettungsfonds für Polen zurückgehalten. „Eine Auszahlung der EU-Coronahilfen an Warschau ist unter den aktuellen Umständen ein absolutes Tabu“, sagt EU-Abgeordneter Freund.
Am 7. Oktober eskalierte Warschau den Justizstreit mit Brüssel – das gewünschte Corona-Geld blieb zu dieser Zeit schon aus. Das polnische Verfassungsgericht erklärte, dass wesentliche Teile der EU-Verträge nicht in Einklang mit polnischem Recht seien, darunter auch Artikel 19, der die Autorität des EuGH festschreibt. Es ist das, was Experten einen „juristischen Polexit“ nennen, ein Ausscheiden Polens aus der europäischen Rechtsordnung.
Dass das nicht weit hergeholt ist, dürfte sich jetzt zeigen. Denn die Regierung kann sich nach dem Urteil vom Dienstag hinter ihrem Verfassungsgericht verstecken und mit Verweis auf polnisches Recht erklären, dass das Luxemburger Urteil folgenlos bleiben muss.
Einen Vorgeschmack darauf lieferte schon mal Janusz Kowalski, Mitglied der Regierungskoalition. Das Urteil nannte er „ein weiteres Beispiel einer ‚rechtswidrigen Rechtsschöpfung‘ durch den EuGH und ‚Unionseurokraten.‘“ Auf Twitter schrieb er überdeutlich: „Ohne Bedeutung. Keine Grundlage. Auf den Müll.“
Justizminister Ziobro offenbar geht jetzt sogar in die Offensive. „Er hat angekündigt, das Verfassungsgericht mit einer weiteren Prüfung des EuGH zu beauftragen“, sagt Experte Jaraczewski. „Es scheint zu einer Patentreaktion geworden zu sein, dass die Regierung jedes Mal das von ihr kontrollierte Gericht anruft, wenn ihr ein EuGH-Urteil nicht passt.“
Für den Moment jedenfalls sieht es nicht danach aus, als würde man in Warschau dem jüngsten Richterspruch folgen wollen. In Luxemburg und auch in Brüssel dürfte das den Verantwortlichen Sorgen bereiten.