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Ausland Attentat in Kongsberg

Das Versagen des norwegischen Staates

Polizisten sperren die Straßen in Kongsberg ab, in denen sich die Attacke abgespielt hat Polizisten sperren die Straßen in Kongsberg ab, in denen sich die Attacke abgespielt hat
Polizisten sperren die Straßen in Kongsberg ab, in denen sich die Attacke abgespielt hat
Quelle: AFP/HAKON MOSVOLD LARSEN
Am Mittwoch starben in Kongsberg fünf Menschen bei einer Attacke. Anders als zunächst angenommen, handelt es sich wohl nicht um islamistischen Terror, sondern um die Tat eines psychisch Kranken. Das wirft Fragen zu den Sicherungssystemen des norwegischen Sozialstaates auf.

Kongsberg ist eine Stadt, die die meisten Menschen in Norwegen nur vom Durchfahren kennen. Wer von Oslo nach Bergen oder weiter an die Westküste will, fährt auf der E134, einer der wichtigsten Bundesstraßen, durch Kongsberg hindurch. In der Innenstadt führt eine Brücke über die Stromschnellen des Lågen, eines breiten Flusses aus dem die Kommune einen Teil ihres Stromes generiert.

Die alte Silbermine ist längst geschlossen. Einmal im Jahr kommen internationale Künstler anlässlich eines Jazzfestivals nach Kongsberg. Friedlich ist es hier, sagen die Bewohner, vielleicht ein bisschen langweilig, finden viele Jugendliche. Kleine Straßen mit holzvertäfelten weißen Häusern dominieren die Altstadt.

In solch einem einstöckigen Haus lebte auch Espen B., ein 37-jähriger in Kongsberg aufgewachsener Däne. Am Mittwochabend tötete er innerhalb einer guten halben Stunde in einem Supermarkt und in Privatwohnungen fünf Menschen mit einem Messer und Pfeil und Bogen. Drei weitere Menschen wurden schwer verletzt. Die Polizeistation ist nur wenige Minuten von dem Supermarkt entfernt. Dennoch entwischte der Täter den Beamten mehrfach, bevor er gestellt und verhaftet werden konnte.

Police continue work in Kongsberg after Wednesday's attack where a man killed five people by bow-and-arrow attack, in Kongsberg
Eine Straße in Kongsberg ist nach dem Attentat wegen der Ermittlungsarbeiten der Polizei abgesperrt
Quelle: via REUTERS

Wer zwei Tage nach der Tat die norwegischen Zeitungen aufschlägt, erfährt, dass B. den norwegischen Behörden seit Jahren bekannt war – sowohl dem Gesundheits- als auch dem Justizsystem. Der norwegische Rundfunk NRK und die Tageszeitung VG berichten, dem Mann sei im vergangenen Jahr ein Besuchsverbot bei seinen Eltern erteilt worden, nachdem er gedroht habe, seinen Vater zu töten. Auch von Einbruchsdelikten und Festnahmen wegen kleiner Mengen Haschischs ist die Rede.

In den Abendnachrichten melden sich Nachbarinnen zu Wort. Er sei ihnen schon immer suspekt gewesen, dieser Mann mit den raspelkurzen Haaren, der in seinem Garten Kampfsport übte und mit niemandem Kontakt hatte. Irgendwie unheimlich, sagt eine junge Frau und ihre Freundin daneben nickt. In einer Nachbarschafts-Whatsapp-Gruppe warnte man sich gegenseitig vor dem Mann. Trotzdem ist auf so eine Tat in Kongsberg niemand vorbereitet gewesen.

Hintergrund des Attentats unklar

Überall ist nun das Foto von B. zu sehen, ein Standbild aus einem Video, das B. im Jahr 2017 unter einem Pseudonym bei Facebook hochgeladen hat. Darin bezeichnet er sich als Bote, der sich mit einer Warnung an seine Mitmenschen richtet. Die Zeit für eine Abrechnung sei gekommen. Er wolle hiermit bezeugt wissen, dass er Muslim sei.

Rückschlüsse auf einen islamistischen Hintergrund des Attentats erwiesen sich jedoch als vorschnell. Die Polizei sprach zwar zunächst von einem islamistischen Terrorakt, relativierte diese Aussage aber, nachdem erste Informationen über die psychischen Erkrankungen des Täters bekannt geworden waren. Die mediale Verbreitung des Videos wirft außerdem die Frage nach dem Umgang mit derartigen Materialien auf. Es ist bereits mehr als vier Jahre alt, ob ein kausaler Zusammenhang zu der Bluttat vom Mittwochabend besteht, ist fraglich, die Deutung als Bekennervideo umso mehr.

Unklar ist bisher auch, ob der Zeitpunkt der Tat eine Rolle spielt: der Abend vor dem Amtsantritt der neuen Mitte-Links-Regierung unter Staatsminister Jonas Gahr Støre von der Arbeiterpartei. Eine Ministerin und ein Minister des neuen Kabinetts sind Überlebende des rechtsterroristischen Anschlags, den Anders Breivik am 22. Juli 2011 in Utøya verübte und damit die norwegische Gesellschaft für immer verändert hat.

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Erste Puzzleteile zum Hintergrund des Täters setzen sich inzwischen zusammen. Sie ergeben das Bild eines extrem isolierten Menschen. Jemand, der nicht arbeitsfähig war, der kein soziales Umfeld hatte, der Nachbarn auf der Straße im Vorbeigehen anknurrte. Aus den Beschreibungen von Nachbarn und Bekannten lässt sich erahnen, dass B. unter psychischen Problemen leidet.

Ein alter Freund spielt eine Schlüsselrolle

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Ob er zum Zeitpunkt des Attentats psychisch zurechnungsfähig war, ist bisher aber noch nicht bekannt. Sollten Psychologen zu dieser Einschätzung kommen, kann der Täter grundsätzlich nicht zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden. Das norwegische System kennt allerdings Ausnahmen, etwa wenn die Psychose als selbst verschuldet gilt, induziert beispielsweise durch Drogen.

Eine Schlüsselrolle spielt ein Mann, den Zeitungen und der norwegische Rundfunk als Kindheitsfreund bezeichnen und der selbst schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu B. hat. Er gibt an, B. seit seiner Kindheit zu kennen und glaubt, dass dieser seit mehreren Jahren psychisch krank ist. Nach der Veröffentlichung des Videos im Jahr 2017 ging der ehemalige Freund zur Polizei. Man kümmere sich, lautete die Reaktion, danach verliert sich die Spur.

„Ich weiß nicht, was sie getan haben. Sie hätten etwas tun sollen“, sagt der Kindheitsfreund heute. B. habe nicht die Hilfe bekommen, die er brauchte. „Er ist schwer krank, lebte seit mehreren Jahren allein in einer Wohnung. Hier haben alle versagt“.

Katharina H., die eigentlich anders heißt und jahrelang in der Altenpsychiatrie und bei einer SOS-Telefonseelsorge arbeitete, erklärt gegenüber WELT, der Fall klinge nach einem typischen „svingedørpasient“, einem Drehtürpatienten, jemandem, immer wieder kurzzeitig in Behandlung sind, jedoch keine dauerhafte Betreuung erhält. „Das Psychiatriewesen in Norwegen ist wie auch das Gesundheitssystem in anderen Ländern dem Public Management anheimgefallen. Es gibt eine Art Massenabfertigung für alle und keine Zeit mehr, jeden so zu begleiten und zu heilen, wie es nötig wäre“.

Ein Weckruf für die neue Regierung

Die Menschen in Norwegen sind von der Tat schockiert. Die Hintergründe sind noch ungeklärt und die Aufarbeitung der systemischen Versäumnisse und Fehler in Justiz- und Gesundheitswesen wird eine ganze Weile dauern. Es zeichnet sich aber bereits ab, dass viele das Attentat als Weckruf für die neue Regierung deuten, die sozialen Sicherungssysteme einer Evaluierung zu unterziehen.

Am Stortorvet in Kongsberg haben Anwohner Blumen und Kerzen im Andenken an die Opfer des Attentats niedergelegt
Am Stortorvet in Kongsberg haben Anwohner Blumen und Kerzen im Andenken an die Opfer des Attentats niedergelegt
Quelle: AP

Unter der nun scheidenden konservativen Regierung von Ministerpräsidentin Erna Solberg ist der einst so gelobte norwegische Wohlfahrtsstaat merklich geschrumpft. Sozialen und kulturellen Einrichtungen werden die Zuschüsse gekürzt. Und Menschen, die dringend und kontinuierlich Hilfe bräuchten, bleibt nichts anderes übrig, als mehrmals pro Woche die Nummer der Suizid-Hotline zu wählen.

Wer einen Therapieplatz braucht, muss in Norwegen gut und gerne ein Jahr warten oder die Behandlung selbst bezahlen, sagt Katharina H. Der Weg in eine psychologische Praxis ist zudem gerade auf dem Land weit. Laut der Norwegischen Psychologischen Vereinigung entwickelt etwa die Hälfte der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung oder Störung. In Gruppen mit niedrigem Einkommen und geringer Bildung sind mehr Menschen betroffen. Diese Zahlen und Betroffenengruppen ähneln jenen in Deutschland.

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