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Politik Geschichte

Preußen in günstigem Licht

Mitglied der Chefredaktion WELT AM SONNTAG
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis die Deutschen Frieden mit Preußen schließen konnten. Die Nachgeborenen entdecken jetzt die Vielfalt eines wundersamen Landes. Doch es waren die preußischen Pickelhauben, die uns in den Ersten Weltkrieg geführt haben.

Es gibt nicht mehr viele alliierte Verordnungen, die noch im Bewusstsein präsent sind. Vielleicht gibt es sogar gar keine – mit einer Ausnahme: Gesetz Nummer 46 vom 25. Februar 1947. Es hat Preußen aufgelöst. Und auch das Ende an sich hätte unsere so furchtbar geschichtslose Generation wohl so bewegt wie die Schlacht von Kunersdorf, nämlich gar nicht. Wenn nicht die Präambel gewesen wäre: „Der Staat Preußen, der seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen ist, hat zu bestehen aufgehört.“

Die Gleichung Preußen und Militarismus hat sich ins Gedächtnis eingeschrieben; nicht weil wir – die Generation zwischen 30 und 50 – sie im Unterricht auswendig lernen mussten, geschweige denn kannten; nur wenige wussten von diesem Satz. Vielmehr stand er wie ein Gespenst unsichtbar im Raum, schimmerte durch die Kapitel unserer Geschichtsbücher, lugte aus Zeitungsartikeln hervor und schwebte über den Debatten in den Schulklassen.

Schuld sind nicht nur linke Lehrer

Es wäre zu einfach, sich nun die linken Lehrer vorzuknöpfen, die alles Preußische für Teufelszeug hielten und von Preußen mit dem mitleidig-arroganten Blick des Besserwissenden sprachen. Sie gab es, doch sie standen nicht allein. Auch seriöse Historiker aus Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik, von denen der DDR abgesehen, hielten Preußen für die Wurzel allen Übels, für Deutschlands bösen Dämon und die eigentliche Ursache der europäischen Katastrophe. Und wir glaubten ihnen, weil wir es glauben wollten, ja, es irgendwie genau so erlebt hatten.

Die Spätergeborenen, die selber keine Katastrophen mitgemacht haben, tragen in Deutschland Erinnerungen in sich, eine Art Vorgeburtstrauma, das sie zu Misstrauen, zu Skepsis und Vorsicht anhält: Das Unterbewusstsein ist politisiert. Eben diese unsere Innenwelt sprach auf die Gleichung Preußentum und Militarismus an.

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Hatte nicht schon Graf Mirabeau in den Achtzigerjahren des 18. Jahrhunderts geschrieben: „Andere Staaten besitzen eine Armee, Preußen ist eine Armee“? War der preußische Militarismus nicht immer als erobernder Staat aufgetreten? Hat er nicht genauso kalt, hart und metallisch ausgesehen, wie wir ihn in Carl Zuckmayers „Hauptmann von Köpenick“ mit Heinz Rühmann als Wilhelm Voigt kennen gelernt hatten? Zeigte Preußen seine Fratze nicht auch in der säbelrasselnden Großmäuligkeit Wilhelms II. und der dekadenten Scheinheiligkeit preußischer Autoritäten, die wir später in den Zeichnungen George Grosz’ so unübertrefflich böse wieder fanden? Waren es nicht die preußischen Pickelhauben, unter denen wir die Soldaten auf Fotos in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges haben sterben sehen?

Dieses Preußen stieß uns ab und war nicht würdig, erinnert zu werden. Darüber hinaus war das Gebilde, das zeitweise nur aus Gebietsfetzen bestand, dann wieder fast ganz Nordostdeutschland umfasste, für uns nicht greifbar. Preußen sei kein National-, sondern ein Rationalstaat gewesen, schrieb Sebastian Haffner Ende der Siebzigerjahre. Das traf unser Bewusstsein genau, auch wenn wir in unserer Abwehr gegenüber Preußen nicht wirklich darüber nachdachten, was es bedeutet. Dennoch bemerkten wir: Anders als Bayern, Sachsen und Baden ließ sich Preußen im Nachhinein nicht fassen. Es war für uns ein Kunstprodukt, ein Staat, ohne Volksstämme, ohne deren Dialekte und Eigenarten, ein knöchernes Gerüst aus Regierungs-, Verwaltungs- und Militärelementen, das in sich zusammen gefallen war und mit dem wir nichts mehr zu tun haben wollten.

Latente Abneigung gegen Preußens Werte

Preußens Werte bekämpften wir mit aggressiver Gleichgültigkeit. Die Lobreden von einst, Preußen sei „ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen“, eine Überzeugung, dass nicht das „Ich“ entscheidend sei, sondern das „Wir“, kam uns abwegig und antiwestlich vor. Pflichterfüllung, Gehorsam, Verlässlichkeit und Fleiß waren Tugenden, die bei vielen von uns nicht gerade hoch im Kurs standen und nur dann eine Berechtigung besaßen, wenn sie mit den Primärtugenden verknüpft waren. Eben das schien uns in Preußen nicht der Fall gewesen zu sein.

Einwände nahmen wir zur Kenntnis, aber nicht ernst. Wolf Jobst Siedler ergriff das Wort immer wieder vergeblich. In fließender Eindringlichkeit erinnerte er an ein anderes Preußen, dessen zu gedenken sich lohnt. Doch Siedler drang zu uns nicht durch, wirkte in seiner halbaristokratischen Bürgerlichkeit wie ein Spross jener Klasse, von der Theodor Fontane 1898 schrieb: „In unserer Oberschicht herrscht eine naive Neigung, alles ‚Preußische’ für eine höhere Kulturform zu halten.“ Genau das traf auf Siedler zu, so fanden viele von uns.

Dennoch blieb sein hartnäckiges Werben nicht vergebens. Auch seinem Einsatz ist die große Preußenausstellung 1981 in Berlin zu verdanken, die selbst auf unsere Generation Eindruck machte. Doch anders als viele Publizisten damals glaubten, änderte sie unser Preußenbild nicht. Zwar galt uns der untergegangene Staat nun wie ein Teil deutscher Geschichte, das zum Museumsstück geworden war, einem Säbel gleich, der in der Ausstellungsvitrine hängt. Doch wer mochte schon Säbel? Von nun an war Preußen für uns Geschichte, aber so tot wie ein Verwandter, dem man über sein Ableben hinaus gram geblieben ist. Die Umbettung des Alten Fritz’ im August 1991 schien uns operettenhaft, seltsam und nicht nachvollziehbar, auf die Barrikaden brachte sie uns nicht mehr.

Allmählich zog Milde ein

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Überhaupt ging es allmählich milder zu. Nach und nach tat sich ein Erstaunen kund, das in Wohlwollen und Toleranz gipfeln sollte. Es war Lothar de Maizière, der 1990 erklärte, die Wiedervereinigung werde Deutschland protestantischer und östlicher machen. Ob das heute, knapp 17 Jahre später, der Fall ist, gehört nicht hierher. Doch der Fall der Mauer brachte uns einen Teil der historischen Räume zurück, die bis dahin unbekannt waren: die brandenburgische Alleen in ihrer melancholischen Schwere, Friedrichs Sanssouci, Kloster Chorin, Fürst Pücklers Park, aber auch Teile Polens, die wir bereisten, ohne sie zurückhaben zu wollen. Preußen, seine Städte und Dörfer, in ihren von ernster Sachlichkeit geprägten Straßenzügen, erschienen langsam in günstigerem Licht. Nicht allein sie führten viele von uns mit neuer Kraft in die Geschichte.

Seit geraumer Zeit erhält Preußen von uns den anderen Teil seines Wesens zurück, eben jenen, von welchem Siedler erzählte: seine Bescheidenheit, seine Leistungen auf dem Gebiet der Wissenschaft, der Kunst und der Verwaltung. Erst jetzt sind wir bereit, zwischen Wilhelminismus und Preußentum zu unterscheiden, nehmen zur Kenntnis, dass Preußen jahrzehntelang friedlich blieb und man nach dem Sturm auf die Düppeler Schanzen 1864 in Berlin nicht mehr wusste, wie viele Salutschüsse bei solchen Siegesfeiern abgegeben werden mussten. Erst heute erlauben wir uns, gelassen von den vielen Preußen zu berichten, die wir plötzlich neben dem militaristischen entdecken: von dem klassischen Preußen des 18. Jahrhunderts, dem romantischen zwischen Napoleon und Bismarck, dem deutsch-nationalen der Bismarck- und Nach-Bismarck-Epoche, schließlich dem halbwegs stabilen und demokratischen Land unter Ministerpräsident Otto Braun, wo Adolf Hitler nicht wenigen Zeitgenossen als „Rache Österreichs für Königgrätz“ galt.

Sebastian Haffner schrieb, man müsse, wenn man Preußen sagt, immer hinzufügen, von welchem Preußen man spricht. Heute haben wir diese Weisheit verinnerlicht. Haffner erklärte auch, dass Preußen ein für allemal untergegangen sei. Zwar wissen wir das schon seit Jahrzehnten, doch im Unterschied zu früher haben wir heute Frieden mit Preußen geschlossen. Das ist auch gut so. Es wurde Zeit.

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