Verteidigungsminister Boris Pistorius hat sich vor dem Nato-Gipfel zur gewachsenen Verantwortung Deutschlands für die Verteidigung im Bündnis bekannt. In seiner ersten öffentlichen Äußerung seit dem Haushaltskompromiss der Ampel-Spitzen ließ der SPD-Politiker zugleich Unmut über die Folgen der Einigung erkennen.
„Ja, ich habe deutlich weniger bekommen, als ich angemeldet habe. Das ist ärgerlich für mich, weil ich bestimmte Dinge dann nicht in der Geschwindigkeit anstoßen kann, wie es Zeitenwende und Bedrohungslage erforderlich machen“, sagte Pistorius, der in Fairbanks in Alaska die Übung Arctic Defender 2024 besuchte. Pistorius sagte: „Wir werden sehen, was sich in den nächsten Wochen und Monaten weiter ergibt. Ich muss mich darauf einstellen und das Beste daraus machen.“
Unter deutscher Führung trainieren Kampfpiloten aus mehreren Staaten gemeinsam mit den USA Luftkriegsoperationen unter Nato-Standards. Angenommen wird der Bündnisfall („Artikel 5“), bei dem ein Angriff auf einen oder mehrere Verbündete gemeinsam abgewehrt wird.
An der Übung sind etwa 60 Kampfjets sowie weitere Tankflugzeuge, Transporter und Hubschrauber beteiligt. Sie üben die Zerstörung der gegnerischen Luftverteidigung sowie den Kampf gegen Luftstreitkräfte und die Zerstörung von Kommandozentralen. Es wurden der Tiefstflug auf einer Höhe von nur etwa 30 Meter – möglichst unter gegnerischem Radar – sowie der Abwurf von Präzisionsbomben trainiert. In Alaska steht dafür eine Fläche wenig kleiner als die alte Bundesrepublik zur Verfügung.
„Wir Europäer übernehmen Verantwortung für die Sicherheit und die Verteidigung Europas innerhalb des Nato-Bündnisses“, sagte Pistorius, der von einem klaren Signal sprach, das für Deutschland in besonderer Weise gelte.
Dabei habe man die Bedrohung im gesamten Bündnisgebiet im Auge, nicht nur in Europa, sondern auch in der Arktis, die von wachsender geostrategischer Bedeutung im Umgang mit Russland und der von Russland ausgehenden Bedrohung sei.
Pistorius will Drohnen-Initiative starten
Bei dem am Dienstag beginnenden Nato-Gipfel gehe es darum, die Fähigkeiten zur Verteidigung und zur Abschreckung weiter auszubauen, sagte der Minister. Er kündigte mehrere deutsche Schritte an, die der Militärhilfe für die Ukraine dienen sollen. So werde Deutschland noch in diesem Jahr 10.000 Schuss Artilleriemunition aus der tschechischen Munitionsinitiative für die Ukraine finanzieren und bereitstellen.
„Und wir werden in Washington eine Drohnen-Initiative vorstellen, die unseren Partnern eine Grundlage schafft für die gemeinsame Beschaffung von Drohnen jeglicher Art aus deutscher Produktion für die ukrainischen Streitkräfte“, sagte Pistorius.
Und: „Von Deutschland wird viel erwartet und das zurecht. Wir sind die größte Volkswirtschaft in Europa, der größte Nato-Alliierte in Europa. Von daher haben wir eine besondere Verantwortung zu übernehmen und tun das auch.“
Der Nato-Gipfel mit Feierlichkeiten zum 75. Jubiläum des Verteidigungsbündnisses beginnt am Dienstag in Washington. Er findet in Phase politischer Unsicherheit statt, nachdem die Eignung von US-Präsident Joe Biden als Präsidentschaftskandidat öffentlich angezweifelt wird.
Unklar ist, wohin die USA steuern, wenn der frühere US-Präsidenten Donald Trump bei der US-Wahl im November wieder ins Amt kommt. Er hatte zeitweise sogar mit einem Austritt der USA aus dem Bündnis gedroht und insbesondere Deutschland kritisiert.
In der vergangenen Woche hatten die Spitzen der Ampel-Koalition der Bundeswehr für das kommende Jahr einen Zuwachs im regulären Wehretat von 1,2 Milliarden Euro zugebilligt. Pistorius hatte 6,5 bis 7 Milliarden Euro Zusatzbedarf für das kommende Jahr angemeldet und auf anstehende Rüstungsprojekte sowie steigende Betriebskosten verwiesen. Der Bundeswehrverband, Interessenvertretung der Soldaten und Beschäftigten des Militärs, kritisierte die Unterdeckung scharf. Der Vorsitzende André Wüstner: „Die Truppe ist verwundert, größtenteils schockiert.“
Rückendeckung erhält Pistorius auch von Generalinspekteur Carsten Breuer. Er erwartet Garantien für eine deutliche Aufstockung in den kommenden Jahren. „Angesichts der Bedrohungslage brauchen wir eine Verstetigung“, sagte Breuer der „Süddeutschen Zeitung“. Das 100-Milliarden-Sondervermögen werde bis Ende des Jahres vertraglich komplett gebunden sein. Mit der Anschaffung neuer Waffensysteme stiegen auch die Betriebskosten. „Was nützt neues Gerät, wenn die Soldaten es nicht betreiben können?“
Breuer unterstrich kurz vor dem Nato-Gipfel in Washington die Bedeutung klarer Zusagen: „Ein verlässlicher, ein steigender Verteidigungsetat ist erforderlich, um auszubilden, üben zu können und um Planungssicherheit für weiterhin notwendige Investitionen zu haben.“
Der Generalinspekteur warnt, Russland könne sich um das Jahr 2029 herum auch gegen Nato-Staaten wenden, daher sei die Abschreckung so wichtig. „Russland baut derzeit ein Potenzial auf, das weit über das hinausgeht, was es für den Angriffskrieg in der Ukraine bräuchte. Die russischen Streitkräfte planen einen Aufwuchs auf 1,5 Millionen Soldaten, das sind mehr Soldatinnen und Soldaten als in der gesamten EU.“
Zudem produziere Russland jedes Jahr zwischen 1000 und 1500 Panzer. „Wenn sie die fünf größten Nato-Armeen in Europa nehmen, dann haben sie dort im Bestand gerade einmal die Hälfte dessen, was Russland nun pro Jahr an Panzern aufbringt. Wir müssen vorbereitet sein.“
Wie geht es weiter? Für die überarbeiteten Verteidigungspläne der Nato sind wohl mehr als 70.000 Soldaten zusätzlich zu den aktuell etwa 181.000 Männern und Frauen nötig. Pistorius selbst sagte bei der Vorstellung seines Wehrdienstmodells im Juni auch: „Wir brauchen nach Einschätzung der Bundeswehr und der Nato rund 200.000 Reservisten mehr. Das heißt, wir reden über dann insgesamt rund 460.000 Soldatinnen und Soldaten“.
Der höchste deutsche Nato-General, Christian Badia, machte Ende Juni in der „Welt“ deutlich, dass Deutschland „wesentlich stärkere Akzente“ setzen könne. Deutschland sei aufgrund seiner Beiträge nach den USA der zweitwichtigste Mitgliedstaat der Nato. Der Nato-Befehlshaber in Europa, US-General Christopher Cavoli, habe Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bei einem Treffen in Berlin die neuen Verteidigungs- und Operationspläne erläutert: „Das Mehr an nötigen Fähigkeiten, deren Flexibilität – und die dafür nötige, nachhaltige Finanzierung insbesondere durch die großen Nationen.
Denn nur so ist sichergestellt, dass er als militärischer Oberbefehlshaber seinen Auftrag ausführen kann.“ Badia warnte: „Es reicht nicht zu sagen: Wir haben doch die zwei Prozent erreicht.“