Fast vier Meter hoch ist die Zugmaschine von Brummifahrer Richard Schneider, ins Führerhaus muss er über eine steile Leiter klettern. Da schrumpft jeder Fahrradfahrer im Außenspiegel zum kaum erkennbaren Strichmännchen. Schneider steht mit seinem Vierzigtonner an der Ampel, möchte rechts abbiegen.
Plötzlich ertönt ein lautes Warnsignal, und im Kombiinstrument fängt es an zu blinken. Der elektronische Abbiegeassistent im Mercedes Actros hat den Radfahrer erkannt, Schneider tritt auf die Bremse. Gerade noch rechtzeitig.
In vielen anderen Fällen reagieren Lkw-Fahrer zu spät. Immer wieder ereignen sich schwere, oft tödliche Verkehrsunfälle, weil Radfahrer oder Fußgänger von rechts abbiegenden Lastern erfasst werden.
Mitte Juni starb in Berlin ein Achtjähriger auf dem Weg zur Schule, als ihn ein Lastwagenfahrer übersah. Die Mutter musste das Unglück mit ansehen. Auch in Köln, Leipzig und Hannover kam es zu tödlichen Unfällen.
Zwar sind die tonnenschweren Zugmaschinen beim Abbiegen nur mit geringem Tempo unterwegs. Doch das Problem ist der tote Winkel: Vom meterhohen Fahrerhaus sind bestimmte Bereiche der Fahrbahn nur schwer oder überhaupt nicht einsehbar.
Deswegen sind allein auf der rechten Lkw-Seite vier Außenspiegel angebracht, das ist gesetzlich festgelegt. „Aber in einer Stresssituation im Stadtverkehr – mit Fußgängern, Radfahrern, Ampeln“, sagt Lkw-Fahrer Richard Schneider, während er mit dem fast 17 Meter langen Laster in einem riesigen Wendekreis abbiegt, „da ist es sehr schwierig, den Überblick zu behalten.“
Assistenzsystem kostet nur 2500 Euro
Schneider ist Testfahrer für Mercedes-Benz. Der Konzern ist einer der wenigen Lkw-Hersteller, die derzeit ein elektronisches Assistenzsystem zur Vermeidung von Abbiegeunfällen anbieten. Befindet sich ein bewegliches Objekt, also ein Radfahrer oder Fußgänger, in der seitlichen Überwachungszone, erkennen dies zwei Radarsensoren und der Lastwagenfahrer wird zunächst optisch informiert.
An der vorderen Säule auf Beifahrerseite leuchtet in Blickhöhe eine LED-Leuchte in Dreiecksform auf. Bei drohender Kollision erfolgt eine zusätzliche optische und akustische Warnung. Kostenpunkt für das Assistenzsystem: 2500 Euro plus Mehrwertsteuer. Eigentlich nicht sehr viel, wenn man bedenkt, dass ein neuer Mercedes Actros für den Fernverkehr locker 120.000 Euro kostet – in der Grundausstattung.
Vor dem Hintergrund der schweren Unfälle fordern Verkehrsexperten die Nachrüstung von Lkw. „Lastwagen ohne Abbiegeassistenten dürfen nicht in Städten fahren“, fordert etwa der ökologische Verkehrsclub Deutschland (VCD).
Gesetzlich vorgeschrieben sind Abbiegeassistenten bei Nutzfahrzeugen noch nicht. Eine entsprechende Gesetzesinitiative wurde zwar im Koalitionsvertrag der Bundesregierung festgelegt. Doch solange eine Nachrüstung nicht verbindlich ist, scheuen die meisten Speditionen die zusätzlichen Kosten. Im Transportgewerbe sind die Margen klein, je günstiger ein Fahrzeug, desto besser.
Hinzu komme, dass vielen Unternehmen die Billigkonkurrenz aus Osteuropa zu schaffen mache, sagt Matthias Lichter. „Da kommt dann eins zum anderen.“
Der Diplom-Ingenieur arbeitet in der Abteilung der Nutzfahrzeugentwicklung bei Mercedes-Benz in Wörth am Rhein, dem größten Lkw-Montagewerk der Welt. „Bis zu 400 Lastwagen gehen da pro Tag raus“, sagt Lichter. Doch nur ein Bruchteil der neuen Fahrzeuge hat einen Abbiegeassistenten an Bord.
Beim Actros, dem großen Fernverkehrslaster von Daimler, liegt die Quote bei zwölf Prozent. „Tendenz steigend“, fügt Lichter hinzu. Immerhin sei das neu entwickelte Assistenzsystem erst seit einem Jahr auf den Markt.
Das überrascht, denn schwere Verkehrsunfälle mit rechts abbiegenden Lastwagen sind kein neues Phänomen. „Schon 2013 wies die Unfallforschung der Versicherer nach, dass durch ein entsprechendes Warnsystem die Hälfte der Abbiegeunfälle mit Fußgängern und Radfahrern vermieden werden könnte“, erklärt Gerd Lottsiepen, verkehrspolitischer Sprecher beim Verkehrsclub VCD.
Bereits im Jahr zuvor sei auf Initiative des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) ein runder Tisch im Bundesverkehrsministerium zum Lkw-Abbiegeassistenten eingerichtet worden. Die damalige Bundesregierung habe das Thema daraufhin auf EU- und UN-Ebene gebracht. „Doch seither ist die Diskussion im Sande verlaufen.“
An der technischen Machbarkeit lag dies offenbar nicht: Bereits 2007 erhielt der Lkw-Hersteller MAN für die Entwicklung eines Abbiegeassistenten einen Preis für Sicherheitsinnovationen – doch in Serie ging das Produkt nie. Dafür bietet Volvo ein kamerabasiertes Assistenzsystem für seine Trucks an.
Wenn der Fahrer den Blinker zum Rechtsabbiegen betätigt, wird eine Kamera an der A-Säule aktiviert, die das Geschehen an der vorderen rechten Seite des Lkw auf einen Bildschirm im Fahrerhaus überträgt und der Person am Steuer eine bessere Übersicht ermöglicht, erklärt ein Sprecher von Volvo Trucks auf Anfrage. „Das System wird ab Werk angeboten und ist international erhältlich.“
Doch an der Praxistauglichkeit gibt es Zweifel. Monitor-Systeme seien kein gleichwertiger Ersatz zu automatisch warnenden und zukünftig vielleicht auch automatisch bremsenden Abbiegeassistenten, glaubt Martin Bulheller vom Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) in Frankfurt am Main.
Die Lösung habe den Nachteil, dass sie nur über eine aktive Blickzuwendung funktioniere: „Nur wenn der Fahrer die Augen direkt auf diesen Monitor richtet, kann er eine mögliche Gefahrensituation erkennen.“
Im Pkw sind Tote-Winkel-Warner schon Standard
Der Spitzenverband BGL vertritt die Interessen von rund 7000 Logistikunternehmen und kritisiert seit Jahren die Untätigkeit der Hersteller in Sachen Abbiegeassistent. Um diese Kritik zu untermauern, verweist Bulheller auf Recherchen des Fachmagazins „trans aktuell“.
Danach bietet von den großen Nutzfahrzeugherstellern wie Iveco, MAN, Scania oder Volvo aktuell keine einzige Marke einen Abbiegeassistenten als Sicherheitsausstattung an – außer Mercedes-Benz. Nach der Reihe tödlicher Unfälle lud der Konzern nun noch Pressevertreter auf einen stillgelegten Flugplatz im Nordwesten von Berlin ein, um den neu entwickelten Abbiegeassistenten im Realbetrieb zu demonstrieren – mit 40-Tonner, Show-Ampel und behelmtem Radfahrer.
Im Demo-Lkw, dem Actros von Testfahrer Richard Schneider, funktioniert der Abbiegeassistent tadellos. Doch nicht für alle Nutzfahrzeug-Modelle von Mercedes-Benz ist das System lieferbar – neben Actros (Fernverkehr) aktuell nur für die Baureihen Arocs (Bauverkehr) und Econic (Müllwagen). Merkwürdig ist auch, warum der weltgrößte Lkw-Hersteller das Assistenzsystem erst vor einem Jahr einführte.
„Schleppkurve“ heißt das gefährliche Abbiegemanöver
Im Pkw-Bereich sind Tote-Winkel-Warner schließlich schon seit geraumer Zeit Standard und gehören in vielen Modellen zur Serienausstattung. Die Lkw-Sparte von Daimler verweist auf den enormen Kostendruck im Transportgewerbe. Speditionen seien „ganz anderen Wirtschaftlichkeitsrechnungen“ unterworfen, sagt Nutzfahrzeug-Entwickler Mathias Lichter.
Der Bundesverband Güterkraftverkehr lässt solche Argumentationen nicht gelten. Man rufe zum wiederholten Male alle an der Zulassung und Entwicklung von Abbiegeassistenten beteiligten Akteure dazu auf, ihre Anstrengungen zu verstärken und schnell zu praxistauglichen und zuverlässigen Lösungen zu kommen, erklärt der BGL.
Auch die Bundesregierung gerät unter Druck. Nach den jüngsten tödlichen Verkehrsunfällen gab es Demonstrationen und Mahnwachen, unter anderem vor dem Bundesverkehrsministerium. „Die schrecklichen Nachrichten von den tödlichen Abbiege-Unfällen mit Lkw sind nicht zu ertragen“, erklärte Ressortchef Andreas Scheuer (CSU). Doch dem Minister scheinen die Hände gebunden.
Wenn er einen Abbiegeassistenten für Lkw in Deutschland verpflichtend einführe, drohe eine Klage wegen eines Verstoßes gegen EU-Recht, da die Vorschriften international geregelt seien. Neulich beim EU-Verkehrsministerrat habe er seine Kollegen sensibilisiert, sagte Scheuer, „weil ich kein Verständnis habe, dass das alles so langsam geht. Ich will nicht bis 2022 warten, wie es die EU plant“.
Der Bundesverkehrsminister kündigte deshalb die „Aktion Abbiegeassistent“ an. Dazu werde er alle Beteiligten ins Ministerium einladen – Spediteure und Logistikverbände, Hersteller und Zulieferer, Radfahr- und Verkehrssicherheitsverbände, technische Prüfdienste und Verkehrspolizisten. Also wieder nur ein runder Tisch wie schon vor sechs Jahren?
Vielleicht helfen finanzielle Anreize. So könnten Speditionen überzeugt werden, in Neuwagen mit entsprechenden Assistenzsystemen zu investieren. Attraktiv scheint auch der Imagegewinn für Firmen mit modernen Lkw-Flotten zu sein. Der Lebensmittel-Discounter Netto hat angekündigt, bis 2019 alle Lkw seines Fuhrparks mit einem Abbiegeassistenten auszustatten.
Nicht zuletzt würde man damit den vielen Lkw-Fahrern einen großen Gefallen tun. Bei Abbiege-Unfällen erleiden sie oft ein schweres psychisches Trauma. Oft nagt ein Leben lang die Schuld an ihnen, einen Radfahrer oder Fußgänger übersehen und dann überrollt zu haben.
„Schleppkurve“ heißt das gefährliche Abbiegemanöver im Fachjargon. Und auch wenn diverse Außenspiegel gesetzlich verpflichtend sind – irgendwann muss man abbiegen und hat die Augen für kurze Zeit woanders, erklärt Brummifahrer Richard Schneider. „Da hilft dann so ein Abbiegeassistent schon ungemein.“
Bis dieser bei Lastwagen gesetzlich verpflichtend ist, hat Schneider einen dringenden Rat an alle Kinder, aber auch erwachsene Radfahrer und Fußgänger: „Wegbleiben vom Lkw!“
Bundesrat fordert: Lkw sollen Abbiegeassistenten bekommen
Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen durch abbiegende Lkw. Damit Radfahrer und Fußgänger auch im Totenwinkel zu erkennen sind, fordert der Bundesrat die verpflichtende Ausrüstung mit Warnsystemen.
Quelle: WELT/ Gerrit Seebald