„Die Welt ist wie ein Garten,/ Die Blüten steh’n im Tau,/ Wir schreiben bunte Karten/ Vom Zauber der Wachau!“ Das dichtete Fritz Löhner-Beda im Frühling 1938. Und das im Herbst des gleichen Jahres: „O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen,/ weil du mein Schicksal bist“. Vier Jahre später wurde einer der bedeutendsten Librettisten der Wiener Operette von den Nazi-KZ-Schergen in Auschwitz erschlagen. Seine Frau und die beiden Töchter waren da schon drei Monate tot, vermutlich ins Gas geschickt.
Ein paar Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs kam an der Wiener Volksoper eben jener „Gruß & Kuss aus der Wachau“ in Gestalt einer albern-klischierten, aber eben erfolgreichen Revueoperette von Jara Beneš (Komponist), Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda (Texter) ohne Namensnennung der „nichtarischen“ Autoren heraus. Inzwischen war das Haus „judenfrei“.
Jetzt singt an eben jener Stelle Kammersängerin Ulrike Steinsky vor einem grellbunt verpixelten Landschaftsprospekt die sentimentale Wachau-Hymne, die in einen strammen Marsch verfällt. Während im sich öffnenden, von Peter Eisenmans Berliner Holocaust-Memorial-Betonstelen eingerahmten Hintergrund Carsten Süss alias Löhner-Beda am Klavier ganz leise dessen Buchenwald-Lied anstimmt.
Betretene Stille im Auditorium. Die auch anhält, als filmisch die Wehrmacht marschiert, während noch viel schneidend böser als bei Horváth in seiner jetzt klaren Doppelbödigkeit der verlogen-fadenscheinige Operettenzauber ins Finale einbiegt und hinten sein Verfasser Hugo Wiener, nach dem Krieg einer der wichtigsten Kabarettisten Österreichs, am Fluchtort Bogotá auf Spanisch unter Lachen weinend „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“ trällert.
Idyll und Inferno. Das ist normalerweise kein Begriffspaar, das man gemeinsam mit Operette identifiziert. Dabei ist die angeblich weltflüchtige Gattung viel weniger bonbonbunten Eskapismusträumen verhaftet, als man glauben würde: Die 1874 uraufgeführte „Fledermaus“ kam ein Jahr nach dem als „Gründerkrach“ berüchtigten ersten österreichischen Börsencrash heraus und führt monetär verkrachte Existenzen beim champagnerseligen Tanz auf dem Vulkan vor. Und auch die 1915, mitten im Ersten Weltkrieg uraufgeführte „Csardasfürstin“ wusste, warum sich auf „Nachtlokal“ das „Jammertal“ reimte.
Walzerflucht an der Wien
Die Operette ist seicht. Sagt man. Doch zumindest in den besseren Werken folgt stets auf den Schwips die Ernüchterung, auf das Verdämmern das Aufwachen, auf „Duidu“ ein „Aua“, auf den Rausch der Kater. Und mag er noch so walzerummäntelt, polka-vertänzelt oder csardas-gewürzt sein.
Ein harmloses Unterhaltungsopus wie eben „Gruß und Kuss aus der Wachau“ war auf strikten Kommerz durch Verschönerung der düsteren Weltlage ausgerichtet. Die private Volksoper war ein in diesen Tagen finanziell dauerstrauchelndes Haus. Doch im März 1938 sieht sich die weiche Walzerflucht am Währinger Gürtel mit der harten Wiener Realität am Heldenplatz konfrontiert: Hitler ist da, der „Anschluss“ der „Ostmark“ vollzogen.
Während viele jubeln, packen andere die Koffer, darunter nicht wenige Mitwirkende des albernen Wein, Weib & Gesang-Singspiels. Theatermuseumsdirektorin Marie-Theres Arnbom, die über jüdische Künstlerschicksale recherchierte, verfasste 2018 das jetzt wiederaufgelegte Buch „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt. Aus der Volksoper vertrieben“, welches jenes Stück zum Ausgangspunkt für ein neues nimmt: „Lass uns die Welt vergessen“. Genau zum 125. Theatergeburtstag hat Direktorin Lotte de Beer die alte Operette dramaturgisch und musikalisch überschreiben lassen.
Theu Boermans, in Holland mit dem Kriegsmusical „Soldaat van Oranje“ seit 13 Jahren erfolgreich, hat den Text verfasst und Regie geführt. Die israelische Komponistin und Hausdirigentin Keren Kagarlitsky hat das nur als Klavierauszug überlieferte, seither nie wieder gespielte Wachau-Busserl neuorchestriert, mit als „entartet“ zensierter Musik von Schönberg, Ullmann und Mahler sowie eigenen Kompositionen aufgefüllt. Das Ensemble von heute spielt die historischen Kollegen. So soll Erinnerungsarbeit als janusköpfig fröhlich-nachdenkliche Feierstunde betrieben werden. In diesen Tagen notwendiger denn je.
Die zweite Ebene mischt sich nicht
Doch gänzlich künstlerisch befriedigend ist diese so originelle wie komplexe Collage nicht ausgegangen. Zu dürftig wirkt das originale, krähend fröhlich, ja ostentativ ausgestellte Folklore-Narrativ vom Dreifabrikmäderlhaus und der Amerikanerin, die sich einen österreichischen Grafen kaufen möchte. Mit der mal didaktisch, dann wieder mit neuen Theatergemeinplätzen aufwartenden zweiten Ebene mischt es sich nicht, läuft viel zu lange und zu gleichförmig nur nebenbei.
Auch wenn das Thema der wegschauen wollenden, sich auf ihre Entertainment-Arbeit konzentrierenden Juden („Wir sind assimilierte, österreichische Kulturträger“, verordnet Theaterdirektor Kowlewski alias Marco di Sapia) versus die ihr antisemitisches Gesicht zeigenden Nutznießer, Zukurzgekommenen, Karrieristen im Ensemble ein schneidend böses, immer aktuell ist.
Da hat wohl die Freude über so viele trotz eines nicht mehr vorhandenen historischen Archivs gewonnene Rechercheergebnisse und Musikentdeckungen die dramaturgische Finesse ausgebremst. Doch im zweiten Teil, nun auch musikalisch strenger enggeführt von Keren Kagarlitsky, mischt sich kausal harmonisch, was nicht zusammengehört, aber zusammengeführt werden muss.
Theatrale Fallhöhe stellt sich ein, nicht nur Datenpräsentation, wenn sogar die Diva Hulda Gerlin (Johanna Arrousas) als „jüdisch versippt“ in letzter Generalprobensekunde entlassen wird. Dass aus ihr der später gefeierte Opernstar Hilde Güden wurde, wäre schon wieder eine eigene Musiktheatergeschichte.
Der jiddelnde Souffleur erhängt sich, Regisseur Kurt Hesky (Jakob Semotan) landet im südamerikanischen Edelsteinhandel, Direktor Kowalewski eröffnet zunächst in Nizza ein Heurigenlokal, Dirigent Kurt Herbert Adler (Lukas Watzl) leitet 30 Jahre lang die San Francisco Opera, Tenor-Beau Viktor Flemming (Ben Connor) stirbt im KZ. Es war und ist richtig und gut, solche, viel zu lange unter den Teppich der Geschichtsvergessenheit gekehrten Lebensläufe zu erzählen, immer wieder.
Dieser Operettentanz auf dem braunen Vulkan, der mit fünf Bühnenhochzeiten und vielen realen Toten endete, der freilich heute nicht die Rasierklingen-Raffinesse zwischen Tingeltangel und Hakenkreuz à la „Cabaret“ oder die den Tanzboden unter den Füßen wegziehende Fallhöhe der besten Konwitschny-Operetteninterpretationen erreicht, ist trotzdem nicht nur ein ehrenwerter, sondern ein wichtiger Wiener Premierenabend – dem schließlich Erinnerungsarbeit und Eskapismusvergnügen gleichermaßen gelingen.