In den rund hundert Kurzgeschichten, für die Alice Munro 2013 völlig verdient den Literaturnobelpreis bekam, geht es gern um Menschen, denen das Leben zustößt, sie schlägt, vor sich her treibt, Menschen, die sich gegen das, was man gemeinhin gern mal Schicksal nennt, nicht wehren. Bis sie es dann doch irgendwann tun.
Meistens handelt es sich bei diesen Menschen um Frauen. Und bei denen, die ihr Schicksal bestimmen, um Männer. Die Kraft, sich gegen diese Männer zur Wehr zu setzen, finden die wenigsten Frauen. Alice Munro, das wissen wir allerdings erst jetzt, elf Jahre nach dem Nobelpreis und gut zwei Monate nach ihrem Tod, gehörte zu ihnen.
Andrea Robin Skinner, Alice Munros Kind mit ihrem ersten Mann Jim, von dem sie sich Anfang der 1970er scheiden ließ, hat im „Toronto Star“ jetzt einen umfangreichen Essay veröffentlicht, in dem sie ihre Mutter der unterlassenen Hilfeleistung anklagt. Ihr Stiefvater, der Geograf Gerold Fremlin, habe sie im Alter von neun Jahren vergewaltigt und sie auch später sexuell missbraucht.
Alice Munro, der sie den Missbrauch erst gut anderthalb Jahrzehnte später und deutlich nach ihrem leiblichen Vater in einem Brief offenbarte, habe sich zwar zwischenzeitlich von Fremlin getrennt, sei aber mit einer eher fadenscheinigen Erklärung zu ihm zurückgekehrt, die beinahe schon aus einer ihrer Erzählungen stammen könnte: „Sie sagte, man habe es ihr ‚zu spät gesagt‘, sie liebe ihn zu sehr, und es liege an unserer misogynen Kultur, dass ich von ihr erwarte, ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen, sich für ihre Kinder aufzuopfern und die Fehler der Männer wiedergutzumachen.“
Der Missbrauch sei – so Skinner – ein offenes Geheimnis in der Familie gewesen. Erst mit Ende Dreißig ging Skinner zur Polizei, Fremlin, der im Jahr 2013 starb, als Munro den Nobelpreis bekam und den die Schriftstellerin in der Öffentlichkeit stets als Partner gelobt hat, wurde zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Sie wolle, so Skinner, dass ihre Geschichte Teil der Geschichten werde, die über ihre Mutter erzählt werden.