Am 29. Juli 1966 fährt Bob Dylan mit seinem Motorrad über eine Landstraße bei Woodstock. Hier verliert sich seine Spur als Stimme einer Generation, für Jahre bleibt der singende Poet verschollen.
Er versäumt dann auch das Festival von Woodstock, was, wie manche mutmaßen, der Grund seines Verschwindens ist. Die Flucht vor seiner eigenen Figur zurück zum Werk und zu sich selbst.
Es heißt, er sei mit seinem Motorrad gestürzt im Sommer 1966. Manche halten ihn sogar für tot, manch andere glauben, Dylan habe den Kulturkapitalismus satt, für wieder andere ist er als Sänger tot, auch wenn er noch am Leben sein mag: Er macht keinen Folk mehr, sondern Rock ’n’ Roll.
Bob Dylan spielt elektrische Gitarre – was für seine abtrünnigen Jünger so ist, als würde sich Jesus freiwillig zum Kriegsdienst in der römischen Legion Judäas melden.
Triumph 500
Als sie ihn zuletzt gesehen haben, singend mit seiner Elektrischen und seiner Rockband, haben sie ihm „Judas!“ zugerufen. Auf der Hülle seines letzten Albums vor dem Unfall trägt Dylan ein Shirt mit einer englischen Triumph 500 auf der schmalen Brust.
Wer immer auch in seinem Namen weiter Platten aufnimmt: Noch gespenstischer erscheint Bob Dylans erstes und vollkommen unlesbares Buch „Tarantula“, zunächst im Raubdruck und dann im Verlag Macmillan.
Dann lässt er sich wieder blicken und bricht als Legende auf zu einer unendlichen Weltreise, um seine Lieder vorzutragen, wie er möchte. Er ist auferstanden, er kann wieder gehen. Manchmal spricht er über seinen Sturz, manchmal waren es mehrere Nackenwirbel, die er sich dabei gebrochen haben wollte, manchmal war es das Genick.
Manchmal war es auch gar nichts, bis auf den schon wieder rührenden Wunsch, sich um seine Familie zu kümmern. Dylan sagt, er wolle nur noch seine eigene Stimme sein und dass kein Lied die Menschheit retten werde, nichts einmal eines von ihm. Auch er sei nur ein Mensch.
„Wie ein Sack Kartoffeln“
Joan Baez, seine ehemalige Geliebte und Gefährtin, auch vor ihr ist Dylan auf der Flucht, plaudert in Interviews gern über ihn, seine Legende und seine Motorradkünste in den sagenhaften 60er-Jahren: „Er hing wie ein Sack Kartoffeln über seinem Rad.“
Er kann ja auch nicht wirklich singen und Gitarre spielen, er hat seine eigene Art, die Mundharmonika zu blasen. Eigentlich ist er kein Musiker, er ist ein Literat. Das kann er. „I’m a poet and I know it“, dichtet er – manche verstehen, er sei ein Prophet, auch wenn sich das nicht reimt.
Im Jahr 2004 veröffentlicht Bob Dylan wieder ein Buch, das erste seit „Tarantula“. In „Chronicles“ erzählt er seine eigene Geschichte, wobei er natürlich offenlässt, an welchen Stellen sein Leben aufhört und die Literatur beginnt.
Über seinen Verkehrsunfall schreibt er zwei Sätze: „Ich hatte einen Motorradunfall gehabt und mich verletzt, aber ich erholte mich. In Wahrheit wollte ich der Tretmühle den Rücken kehren.“
Was sich wie die Auszeit eines ausgebrannten Angestellten liest und nicht wie ein Bekenntnis von Bob Dylan, wird im Jahr 2007 verfilmt. In „I’m Not There“ ist Dylan nicht nur einer, er ist viele andere. Ein Motorrad rast durch den Film, es scheppert. Einer der sechs Dylans hat den Unfall überlebt und sitzt zu Hause, vielleicht ist es wirklich so gewesen.
Noch einmal neun Jahre später bekommt er als „Ovid des Blues“ tatsächlich den Literaturnobelpreis. Aber er ist unerreichbar, telefonisch und über die neuen Medien sowieso. Zur Preisverleihung lässt er ausrichten, er habe andere Verpflichtungen und sei verhindert. Manche sagen, er sei wieder mit seinem Motorrad unterwegs. Den Preis holt er sich später ab. Bob Dylan lebt.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.
Dieser Artikel wurde erstmals am 6. August 2019 veröffentlicht.