Es war die elfte Stunde am elften Tag des elften Monats, als 1918 in einem Eisenbahnwaggon in einer Waldlichtung von Compiègne der Waffenstillstand mit den Deutschen in Kraft trat. Der Zeitpunkt hat sich in den Siegernationen des Ersten Weltkriegs als Feiertag bis in die Gegenwart erhalten. In die deutsche Geschichte ging das Ereignis als „unbewältigte Niederlage“ (Gerd Krumeich) ein.
Als „Novemberverbrecher“ diffamierten die Nazis die Politiker, die für das Schicksal Deutschlands von der Abdankung des Kaisers über die Ausrufung der Republik bis hin zur Annahme des Versailler Friedensvertrages am 28. Juni 1919 Verantwortung trugen. Niemand in Deutschland identifizierte sich mit diesem Frieden – wie auch?
Das Land wurde für alleinschuldig am Ersten Weltkrieg befunden, es schrumpfte (in seiner Einwohnerzahl und geografisch), musste ökonomisch bluten (in Form gewaltiger Reparationszahlungen) und verlor seine Kolonien an die Siegermächte. Und dennoch war nicht alles nur „Kultur der Niederlage“ (Wolfgang Schivelbusch): Deutschland wechselte seine Staatsform, erfand sich als demokratischer Verfassungsstaat neu, war eine der ersten großen Industrienationen, die ihren Frauen das aktive und passive Wahlrecht einräumte. Ihre Zahl überstieg die der wahlberechtigten Männer um Millionen. Die Epochengrenze 1918/19 füllt zum 100. Jahrestag ganze Regalmeter mit Neuerscheinungen. Die Topsachbücher zum Thema haben übrigens eines gemeinsam: Sie lassen die Zeit mit vielen Zeitzeugenzitaten von Harry Graf Kessler bis Käthe Kollwitz leuchten.
Eckart Conze: „Die große Illusion“
Frieden zu schließen kann eine zähe Angelegenheit, muss aber kein zäher Leserstoff sein. Das beweist das Buch des Marburger Historikers über die Neuordnung der Welt durch die von Januar bis Juni 1919 dauernde Versailler Konferenz (Siedler, 560 S., 30 €). Es bietet eine konzise Nacherzählung und fokussiert auf einzelne Szenen (etwa das undiplomatische Auftreten der Deutschen in Versailles), weitet den Blickwinkel aber immer wieder aufs Ganze und bis in die Gegenwart: etwa auf die Frage, warum die Kriegsschulddebatte die Historiker bis heute beflügelt. Conze verweist auf den Erfolg von Christopher Clarks „Schlafwandler“-Buch von 2013 und „vereinzelte Stimmen, die dazu aufforderten, im neuen Lichte auf den Kriegsbeginn auch einen neuen Blick auf den Friedensschluss zu werfen“.
Neu am Versailler Vertrag (gegenüber früheren Friedensschlüssen der Geschichte) war die Feststellung von Kriegsverbrechen. „Was früher moralisch verurteilt wurde, galt nun als kriminell“, schreibt Conze. „Der Kriegsgegner war nicht mehr ‚nur‘ der Feind, sondern ein Verbrecher, der bestraft werden musste.“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wiewohl völkerrechtlich erst seit 1945 verankert, waren 1918 erstmals Thema.
Der Versailler Vertrag (mit Deutschland) war nur der erste in der Serie der insgesamt fünf Pariser Vorortverträge, die die Nachkriegsordnung in Europa, im Nahen Osten und darüber hinaus regelten – mit Folgen bis heute. Die große Illusion, die Conzes Buch im Namen trägt, lässt sich zweifach verstehen: erstens bezogen auf die internationale Nachkriegsordnung, deren Stabilität sich als Trugschluss erwies. Denn das von US-Präsident Wilson behauptete Ideal des Selbstbestimmungsrechts der Völker galt nicht für alle und die „Politik der Nationalisierung“ nährte Illusionen ethnisch homogener Staaten, deren Verwerfungen bis heute andauern.
Zweitens täuschte der damalige Anti-Versailles-Konsens über die faktische Macht der Antidemokraten hinweg: „Zauberlehrlingsgleich“ hätten im politischen Wettbewerb auch die demokratischen Kräfte von dem emotionalen Thema profitieren wollen, dabei aber nur die diskursive Vorherrschaft der Nazis bestärkt, schreibt Conze. Er schaut auch auf heutige Konfliktherde, die mit dem Zerfall von Imperien am Ende des Ersten Weltkriegs zusammenhängen, zum Beispiel den Neo-Osmanismus Erdogans, der die Ordnung durch die Friedensbeschlüsse von 1919 und 1923 (Ägäische Inseln zu Griechenland) hinterfragt.
Auch die aktuelle Geringschätzung unilateraler Ordnungen und Wertesysteme vergleicht er mit 1918/19. „Das Friedensnarrativ, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstitutiv für die Einigung Europas, verliert an Wirkung.“ Conzes Schlusssatz: „Geschichte wiederholt sich nicht. Die Parallelen freilich, sie sind unübersehbar.“
Robert Gerwarth: „Die größte aller Revolutionen“
Der 1976 in Berlin geborene und in Dublin lehrende Historiker gehört zu den Champions einer lesefreundlichen Geschichtswissenschaft, die komplexe Themen auch noch auf unter 300 Seiten (plus Anmerkungen) abhandeln kann und will. Gerwarths Buch über den November 1918 und den Aufbruch in eine neue Zeit (Siedler, 384 S., 28 €) spannt einen ebenso facettenreichen wie klug konzentrierten Bogen von den letzten Kriegsmonaten bis ins Krisenjahr 1923.
Der Superlativ-Titel ist ein Originalzitat des liberalen „Berliner Tageblatt“-Journalisten Theodor Wolff. Er betonte, wie gewaltfrei das Kaisertum im November 1918 aus dem Amt gefegt wurde. Gewaltfrei blieb es im Deutschland der Folgejahre leider selten. Politische Morde, verübt durch Rechtsextremisten, waren an der Tagesordnung – um nur die prominentesten Opfer zu nennen: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht (Januar 1919), der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner (Februar 1919), der USPD-Politiker Hugo Haase (November 1919), Matthias Erzberger, der Unterzeichner des Waffenstillstandsabkommens von Compiègne (August 1921) und Außenminister Walther Rathenau (August 1922).
Das Buch unterstreicht, dass wir bei Revolution nicht nur an Waffengewalt und Straßenkämpfe denken sollten. Sondern auch an Bürgerrechte und sexuelle Freiheiten. Gerwarths Blick auf „1918 and the Making of Modern Germany“ (so der englische Titel von Gerwarths Buch) empfiehlt sich für alle, die Geschichte packend geschrieben und kompakt lieben.
Jörn Leonhard: Der überforderte Frieden
In dieses Zeitreise-Buch kann man sich versenken. Auch wenn die Fäden rund um Versailles und die Welt von 1918 bis 1923 (C.H. Beck, 1531 S., 39,95 €) manchmal etwas ausfransen – der Reichtum der abgehandelten Schauplätze und eingewebten literarischen Stimmen ist so groß, dass sogar derjenige Leser etwas mitnehmen wird, der diesen Dickleiber nur punktuell liest. Dass es solche den Geist der Zeit in voller Breite und Tiefe atmenden Geschichtswerke noch gibt!
Der Freiburger Geschichtsprofessor Leonhard pumpt epische Szenen in seinen Stoff, ganz egal ob Franz Kafka die Verwandlung in einen tschechoslowakischen Staatsbürger erlebt oder ob Sigmund Freud in sein Tagebuch notiert: „Die Habsburger haben nichts als einen Dreckhaufen hinterlassen“. Man lernt bei Leonhard, wie Max Weber die Dolchstoßlegende schon 1917 prophezeit und erfährt, in welchem tatsächlichen Ausmaß Deutschland nach 1918 nicht nur demobilisiert, sondern ebenso demoralisiert war.
Über den publizistischen und intellektuellen Krieg nach dem Krieg wird man exzellent informiert. Ein Ernst Bloch suchte die Auswege aus der Leere in der Utopie, ein Oswald Spengler in kulturkritischen Untergangsideologien. Und die deutsche Hochseeflotte, die im schottischen Scapa Flow interniert war, versenkte sich noch kurz vor Unterzeichnung des Versailler Vertrags lieber selbst, als den Briten etwas in die Hände fallen zu lassen: „Aus dem Symbol der deutschen Zukunftsfähigkeit, dem Ausweis industrieller Leistungskraft und globaler Herrschaftsansprüche wurde ein riesiger Schrottplatz unter Wasser.“
Der Leonhard-Sound entfaltet einen Sog. Fast verwunderlich bei der epischen Breite des Buches ist es, dass die in Konkurrenzwerken vergleichsweise prominent abgehandelte Episode um den Kieler Matrosenaufstand hier nur aus der Ferne vorkommt. Bestechend fällt Leonhards Finale aus, in dem er die Formel vom „überforderten Frieden“ mit Begriffspaaren und der ganzen Lauterkeit eines Großhistorikers resümiert. Über Deutschland hinaus nimmt er auch Europa und die Welt in den Blick. Ein Standardwerk für alle, die es episch umständlich, aber fachkompetent sortiert mögen. In dieses Buch kann man eintauchen, ohne unterzugehen.
Weitere Empfehlungen
Wer den Umbruch von 1918 als Erzählung vom „Kaisersturz“ nachlesen will, greift zu Lothar Machtans gleichnamigen Buch (Theiss, 350 S., 24 €). Über 20 deutsche Monarchien wurden 1918 abgewickelt, ganze acht allein in Thüringen.
Peter Reichels Studie „Der tragische Kanzler“ (dtv, 464 S., 29 €) über Hermann Müller und die SPD in der Weimarer Republik zeigt: Auch an einer Loser-Figur kann man Geschichte gut studieren.
Wem das alles zu viel „Negativerzählung“ ist, der schlägt mit Birte Försters Buch „1919“ (Reclam, 200 S., 20 €) gleich mehrere Kapitel über Fortschrittsthemen wie Frauenwahlrecht oder internationale Arbeitsrechte auf. Das populärwissenschaftliche Kompendium der Bremer Historikerin ist der charmante, wenn auch nicht besonders originelle Versuch, Florian Illies’ Episoden-Lesebuch „1913“ auf das Jahr 1919 zu übertragen.
Aus der Redaktion
Abschließend genannt seien zwei Bücher von WELT-Redakteuren, die sich ebenfalls mit dem Ende des Ersten Weltkriegs beschäftigen:
Sven Felix Kellerhoff und Lars-Broder Keil: Lob der Revolution. Die Geburt der deutschen Demokratie. Theiss, 288 S., 24 €.
Matthias Heine: Letzter Schultag in Kaiser-Wilhelmsland. Wie der Erste Weltkrieg die deutsche Sprache für immer veränderte. Hoffmann und Campe, 224 S., 16 €.
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts
In der öffentlichen Wahrnehmung scheint der Erste Weltkrieg im Schatten des Zweiten Weltkriegs zu stehen. Dabei war er der erste industrialisierte Krieg und forderte unfassbar viele Verluste.
Quelle: Reuters