Glaubst Du, dass es echte Vampire gibt? Eine ungewöhnliche Frage, zudem wenn sie in einem Vampirfilm gestellt wird. Doch Julian Radlmaier hat mit „Blutsauger“ einen Vampirfilm gemacht, wie man ihn noch nie gesehen hat. Es geht um die Ausgeburten der menschlichen Fantasie, ihre Beziehung zur Realität und die Frage, wohin sie führen.
Das Bild von den blutsaugenden Untoten hat nämlich so einige Ambivalenzen. Das stellt in der Eingangsszene auch ein Teilnehmer eines „marxkritischen Marx-Lesekreises“ fest, der auf ein paar Passagen im „Kapital“ hinweist, in denen Marx sich der Sprache des Gruselromans bedient: „Das Kapital ist verstorbne Arbeit, die sich nur vampirmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit“. Aussaugen als Metapher für Ausbeutung?
„Blutsauger“ zeigt die gefährliche Verselbstständigung einer solchen Metapher – bis hin zu dem Fantasma eines harmonischen Gesellschaftskörpers, der vom parasitären Fremden ausgesaugt wird. Es ist ein ebenso kluges wie fantasievolles Lehrstück über die tödliche Gefahr der Buchstabengläubigkeit, über die Bedrohlichkeit einer von aggressiven Wünschen getriebenen Geisteshaltung, die zwischen einem Bild und der Wirklichkeit keinen Unterschied mehr erkennt. Die Frage im Film ist nicht nur, ob es echte Vampire gibt, sondern welche Absicht mit einem solchen Glauben einhergeht.
Kompliziert wird die Sache dadurch, dass es in „Blutsauger“ durchaus echte Vampire gibt, die aber wiederum die Mär in die Welt setzen, an den mysteriösen Bisswunden der Arbeiter in der Umgebung wäre eine Plage chinesischer Flöhe Schuld. Und dann wird auch noch ein Vampirfilm gedreht, in dem ein geschminkter Chinese als Filmvampir einen echten Vampir beißt, womit die Verwechslungskomödie mit tragischem Ausgang erst so richtig in Fahrt kommt.
„Vampire gibt’s doch nur im Kino“, sagt die von Lilith Stangenberg gespielte bluthungrige Octavia. Dann wirft sie sich in dramatische Stummfilmposen oder versinkt hinter der Zeitung wie einst der legendäre Max Schreck in „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ (1922), als der Blutsauger auf die Leinwand kam. Und eine der ganz großen Fragen des Vampirfilms wird nebenher auch noch gestellt: Wie halten es die Blutsauger eigentlich mit der Zahnpflege?
Hinweise zur Zahnpflege
In der allerletzten Szene von „Blutsauger“ wird nun das Geheimnis der Dentalhygiene gelüftet: regelmäßiges Zähneputzen, immer schön von Rot nach Weiß. Und auch in den vorausgehenden knapp zwei Stunden passiert so einiges ungewöhnliches für einen Vampirfilm. Alexandre Koberidze spielt Ljowuschka, den es 1928 aus dem Arbeiterparadies Sowjetunion ins beschauliche Ferienparadies Ostsee verschlagen hat. Er gibt vor, ein Baron zu sein, doch in Wahrheit ist er ein von Stalin gecancelter Trotzki-Darsteller aus Sergej Eisensteins „Oktober“. Zu der Rolle kam er durch eine spezielle Zahnbehandlung des berühmten Regisseurs, Glück hat sie ihm keines gebracht. Nun heißt der erträumte Ausweg Hollywood. Nur ist der Weg von Moskau nach Kalifornien weit und führt über Deutschland.
So landet Ljowuschka bei Octavia Flambo-Jansen, der Erbin eines Kosmetikimperiums. Eine so grazile wie weltfremde Person, die sich in ihren romantischen Tagträumen verliert. Sie frönt allerlei neuen Moden, die unter Vampiren und vor allem in der Großbourgeoise eher befremdlich anmuten. Sie liest Proust, raucht Haschisch, und ihren Diener Jakob (Alexander Herbst) nennt sie einen „persönlichen Assistenten“, an den die Aufforderung zum Duzen der Herrin ebenso regelmäßig wie erfolglos ergeht wie das „Sitzen machen!“ in Billy Wilders „Ein, zwei, drei“ (1961). Vom falschen Baron wünscht sie sich, dass dieser, um kommunistische Umtriebe einzudämmen, den Arbeitern in ihrer Fabrik den Kommunismus „aus der Opferperspektive“ erklärt. Der wiederum will bei ihr vor allem die Mittel für die Überfahrt erhaschen, dann auch ein paar Küsse, wobei das Beißen dann nicht ausbleibt.
Octavia ist das Zentrum des Films. Ljowuschka und Jakob geben sich der erotischen Anziehung hin, die wiederum der brutal-schnöselige Bonin (Daniel Hoesl) nur vorgibt zu verspüren, während er allein Geschäftliches im Sinn hat. Die Tante (Corinna Harfouch) hat für die Octavias Allüren reichlich wenig Verständnis. Im Schlepptau hat sie den Fabrikdirektor und Bürgermeister Doktor Humburg (Andreas Döhler), der so daneben über Bevölkerungshygiene referiert wie sonst nur auf Twitter hängengebliebene Gesundheitsminister.
Es ist, als ob Rainer Werner Fassbinder spröde analytische Filmkunst auf Wes Anderson trifft: eine Welt voller skurriler Figuren, humorvoll und märchenhaft, zugleich aber mit realistischer und gesellschaftskritischer Anlage. Radlmaier interessiert sich für die erzählerischen Möglichkeiten des Films, das Fantasievolle, wie es im Märchen steckt. So stört es nicht, dass „Blutsauger“ zwar in den 1920-er Jahren spielt, aber auch eine Coladose den Weg ins Bild findet. Der 1984 geborene Filmemacher, der neben dem Buch auch für Regie und Schnitt verantwortlich zeichnet, verkörpert ein neues Autorenkino, politisch und poetisch zugleich.
Eine marxistische Vampirkomödie nennt Radlmaier augenzwinkernd seinen Film. Eine ungewöhnliche Genrebezeichnung. Und überhaupt, ist Genrehaftigkeit nicht konventionell, bieder, altbacken? Umgekehrt könnte man fragen, was eigentlich durchs Genre hindurch mitgeteilt wird. Der Medientheoretiker Friedrich Kittler hat mit „Draculas Vermächtnis“ Anfang der 1980-er Jahre genau das einmal ausgeführt und damit die Vampire aus dem Bereich des stiefkindlich behandelten Trashs in die Sphären der akademischen Aufmerksamkeit gehoben. „Blutsauger“ spielt auf so vielen Ebenen, dass es geradezu erstaunlich ist, dass er nicht völlig auseinanderfällt. Der Film ist in all seinen Wendungen und Brechungen auch eine Schule der Zeichen und des Sehens.