Meine erste Begegnung mit Gero Gandert liegt genau ein Vierteljahrhundert zurück. Er war gerade als Kustos bei der Berliner Kinemathek in Ruhestand getreten (aber das wusste ich nicht), er hatte gerade fünf Millionen Mark für den größten Triumph seines Lebens aufgetrieben (auch das wusste ich nicht). Alles, was ich wusste, war, dass er ein 916 Seiten dickes Buch herausgebracht hatte, das 470 Mark kostete, ein Werk unfassbarer Beharrlichkeit und grenzenloser Sammelwut. Ein Buch, über das ich schreiben, das ich besitzen wollte.
Als Treffpunkt hatte er das Café Einstein in der Kurfürstenstraße gewählt, wo in den Zwanzigerjahren die Crème de la Crème der Weimarer Republik ein und aus ging, Fabrikanten, Politiker, Stars. Die meisten, die den Index von Ganderts „Der Film der Weimarer Republik 1929“ bevölkern, müssten hier einmal Kaviar gelöffelt haben, stellte ich mir vor.
Leidenschaft für Osteuropa
Kaviar hätte nicht zu Gero Gandert gepasst. Er war nüchtern, leise, höflich und hat damals viel mehr von sich erzählt, als man bei einem solchen Termin sonst preisgibt. Er war Lokalreporter, gründete in München einen Filmclub, zog nach Berlin und schrieb Kritiken über osteuropäische Filme.
Er schrieb auch für das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen – das roteste Tuch für die DDR, weil es an einem einigen Deutschland festhielt – über das Festival in Karlovy Vary in der Tschechoslowakei. Als Gandert das nächste Mal nach Ost-Berlin fuhr, wurde er verhaftet, wegen „Spionage und schwerer staatsgefährdender Hetze und Propaganda“. 18 Monate lang war er von der Stasi beobachtet worden. Drei Jahre saß er im Zuchthaus Brandenburg ein.
Im Juni 1961 kam er frei, kurz vor dem Bau der Mauer. Sein erster Weg führte ihn zur Berlinale, die damals noch im lauschigen Sommer stattfand, sein nächster in die Kinemathek. Man muss sich vorstellen, dass es damals eigentlich keine deutsche Filmgeschichte gab. Der stumme war vom Tonfilm ausgelöscht worden, der frühe Tonfilm von den Nazis, die Nazifilme von der Niederlage und Opas Nachkriegskino von den jungen Wilden.
Wenn es etwas gab, worauf man stolz sein konnte, waren das die Zwanziger mit „Nosferatu“ und „Metropolis“. Aber die waren in alle Winde zerstreut, die Filme und die Menschen. Was existierte, waren die Kritiken. Gandert verliebte sich in die Texte von Hans Sahl und Kurt Pinthus, Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim, in deren literarische Qualität. Es gab damals die acht Bände „Deutsche Stummfilme“ von dem Kinemathek-Gründer Gerhard Lamprecht, aber da standen nur die Namen der Beteiligten drin.
Und so konzipierte Gero Gandert das Projekt „Der Film der Weimarer Republik“, 15 Jahresbände, absolut alles zu jedem Film, inklusive jeder jemals veröffentlichten Kritik. Es musste präzise sein, komplett, perfekt. Er habe alle in der Kinemathek „an die Schmerzgrenze“ gebracht, hat ihm sein langjähriger Chef Hanns-Helmut Prinzler einmal attestiert. Aber dann war der erste Band da, und er war unvergleichlich, weltweit.
Gandert hat wohl Jahre seines Lebens in Archiven verbracht. Aber er nahm auch zur Kenntnis, was draußen geschah: Die Augenzeugen der goldenen Zeit begannen zu sterben. Der Witwe des Schauspielers Werner Krauß luchste er das legendäre „Caligari“-Manuskript ab und ging auf Einladung des Goethe-Instituts damit in Amerika auf Vortragstournee durch Universitäten. Sein Netzwerk bei den Film-Exilanten in Amerika begann zu wachsen, deren Vertrauen in diesen preußisch-korrekten Sendboten aus der alten Heimat auch.
Akt der Wiedergutmachung
In den USA interessierte sich kein Mensch für die Zeugnisse ihrer Leben, für die Fotos, Drehbücher, Briefe. Mit Gero Gandert kam einer, der nicht nur alles über die Filme wusste, die sie vor so langer Zeit gedreht hatten, sondern der ihren Memorabilien einen sicheren Platz für die Ewigkeit versprach: die Berliner Kinemathek. Und für Gandert war es mehr als ein Akt der Aufbewahrung: Es war auch ein Akt der Wiedergutmachung, eine Heimholung, die dieses Land den Vertriebenen und sich selbst schuldig war.
Manchmal kam der Jäger der verlorenen Schätze, wenn er endlich die richtige Spur gefunden hatte, zu spät; die Nachkommen hatten den alten „Plunder“, deren Wert sie nicht ahnten, bereits in den Müll geworfen. Aber Gandert gewann den „Wettlauf mit der Zeit“ (wie er ihn nannte) bei Erich Pommer, dem Produzenten, ohne den es den „Blauen Engel“ und „Die Drei von der Tankstelle“ nicht gegeben hätte. Bei Paul Kohner, Anlaufstation und Agent für unzählige deutsche Emigranten in Hollywood. Bei Fritz Lang. Bei Marlene Dietrich. Bei vier Dutzend anderen.
Unvollendetes Großprojekt
Ein Posten „Rückholung des deutschen Filmerbes“ existierte in keinem Haushalt. Jedes Mal musste Gandert die Mittel für die Reisen neu beschaffen, für den Erwerb, für den Transport. Die fünf Millionen für den Dietrich-Nachlass bekamen er und sein Mitstreiter Werner Sudendorf von der Berliner Klassenlotterie.
Ich habe immer – ohne große Hoffnung - auf den nächsten Band von „Der Film der Weimarer Republik“ gewartet, auf das Jahr 1928. Er ist nie erschienen, die Kraftanstrengung für den ersten war einfach zu groß gewesen. Außerdem hatte Gero Gandert noch ein Lieblingsprojekt, einen deutschen Walk of Fame.
Von der Idee bis zur Eröffnung des „Boulevard der Stars“ auf dem Potsdamer Platz dauerte es nochmals fast zehn Jahre, jetzt liegen dort über 100 Sterne, und mithilfe eines Spiegeltricks kann sich jeder Besucher mit seinem Star fotografieren lassen.
Auch ein Billy-Wilder-Stern ist dort eingelassen. Der Wilder-Nachlass ist Gandert entgangen, aber Freund Billy hat ihm das berühmte Motivationsschild geschenkt, das auf seinem Schreibtisch stand: „How would Lubitsch do it?“ Lubitsch – Wilder – Dietrich – Gandert: alle Teil der deutschen Filmgeschichte. Nun ist Gero Gandert im Alter von 90 Jahren in Berlin gestorben.