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Film Wilde Zwanziger

„Für meine grenzenlose Sinnlichkeit kann ich nichts“

Filmredakteur
Marlene Dietrich Marlene Dietrich
Marlene Dietrich
Quelle: dpa/KEYSTONE
Die Zwanzigerjahre waren noch wilder als gedacht: Eine Ausstellung in Bonn zeigt, wie das junge Kino formte, was wir heute „Moderne“ nennen. Mit dabei: Babette Bomberling und eine blutjunge Marlene Dietrich.

Es ist einer der berühmtesten Tagebucheinträge des 20. Jahrhunderts: „Im Kino gewesen. Geweint.“ Die vier Worte Franz Kafkas aus dem Jahre 1921 werden unweigerlich zitiert, wenn es darum geht, die Faszination des Leitmediums Film zu beschwören.

Aber wie wäre es denn damit: „Eigentlich müsste ich mich recht schämen. Für meine grenzenlose Sinnlichkeit kann ich nichts. Wer weiß, wo ich nochmal lande“, schrieb eine 17-jährige Abiturabbrecherin zwei Jahre vor Kafka in ihr Tagebuch, aufgewühlt durch den Sittenfilm „Moderne Töchter“. Die Autorin dieser Zeilen sollte zehn Jahre später in Hollywood landen, als Marlene Dietrich, als Weltstar.

Man kann den Eintrag sehen, die Seite ist unter Glas aufgeschlagen in der Ausstellung „Kino der Moderne – Film in der Weimarer Republik“ in der Bonner Bundeskunsthalle. Und um diese zehn Jahre geht es, die Marlene für die Weltstarwerdung vorbereitet haben, um die Technik, die Mode, die Psychoanalyse, die Arbeitswelt, den Sport, die Urbanität – kurz, um eine nie zuvor da gewesene Horizonterweiterung und damit einher gehende Verunsicherung, unserer Gegenwart durchaus vergleichbar. Und der Ort, an dem der Horizont geweitet wurde, war das Kino.

Dies ist keine weitere nostalgische Erinnerung daran, wie gut der deutsche Film damals war, dass er ein paar Jahre lang sogar Hollywood Konkurrenz machen konnte, Meisterwerke wie „Metropolis“ und „Nosferatu“ hervorbrachte. Dies ist keine filmhistorische Ausstellung, der etablierte Kanon wird kein weiteres Mal durchgekaut.

Gewiss, um „Metropolis“ kommt „Kino der Moderne“ nicht herum, aber daneben steht „Madame Lu. Die Frau für diskrete Beratung“. „Die Bräutigame der Babette Bomberling“ ist so signifikant wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“. „Nosferatu“ findet zweimal Erwähnung, „Sprengbagger 1010“ viermal.

Frauen schrieben Hunderte von Drehbüchern

„Madame Lu“ ist die Frau, die einem schwangeren Mädchen bei der Abtreibung hilft, eine Vertrauensfigur, keine Kurpfuscherin. „Babette“ steht für die wenigen Filme, die von Frauen inszeniert wurden (daneben steht aber eine Statistik der fleißigsten Drehbuchautorinnen, die ersten fünf haben, aufaddiert, rund 300 Filme in den Zwanzigern geschrieben).

Und der „Sprengbagger“ steht für die Neugier des Weimarer Kinos auf Arbeitswelten – in einer Zeit, als einem Buchhalter der Arbeitsplatz eines Bergarbeiters fremder war als die Stammestänze der Herrero (die sah er wenigstens in Wochenschauen aus den Kolonien).

So hängt in der Kunsthalle der Originalszenenbildentwurf des großen Filmarchitekten Erich Kettelhut zu dem Film „Der Sieger“, in dem sich Hans Albers vom Gigolo zum Bankdirektor hoch scharwenzelt.

Die traditionelle Ausstellung hätte den Film als Paradebeispiel für das Starkino präsentiert (wenn überhaupt) und vielleicht noch einen Seitengedanken an die Comedian Harmonists verschwendet, die ebenfalls auftreten.

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In Bonn sieht man weder Albers, noch die Harmonists, nur Kettelhuts Bleistiftzeichnung. Die zeigt etwas, das die meisten auf die frühen Sechzigerjahre datieren würden, nicht auf die frühen Dreißiger: ein Großraumbüro. Die frühste Erinnerung an diese Degradierung zur Legehenne stammt bei vielen aus Billy Wilders „Appartement“, wo Jack Lemmon an einem Schreibtisch sitzt, neben und hinter dem sich weitere Reihen erstrecken, ins quasi Unendliche.

Schon damals: der Horror des Großraumbüros

30 Jahre davor zeichnete Kettelhut den Großraum im „Sieger“, ein früherer Fabriksaal mit vielen Stützpfeilern, vollgestopft mit Schreibtischkolonnen, und das nicht nur auf einer Ebene, sondern ein zweites Mal auf einer Galerie, die den Raum umläuft. Der Horror des Großraums ist also keine Nachkriegserfindung und kein amerikanischer Import, sondern durchaus hausgemacht.

Ein weiterer Szenenentwurf des Kettelhut-Kollegen Franz Schroedter für „Die große Pause“ zeigt einen lichtdurchfluteten Raum. Darin: eine Sprossenwand, eine Liegewippe, ein Bock sowie ein an Decke und Boden befestigter Punchingball. Es könnte ein früher Fitnessraum sein, und so war er sicher auch gemeint, in der Mitte jedoch steht ein Klavier mit Hocker und Noten. Noch gehören Fitness und Bildung zusammen.

Der Film stammt aus dem Jahr 1927. Begleitet wird er von einem Foto aus dem Schlafzimmer des Volksbühnen-Intendanten Erwin Piscator. Auch dort finden sich: Sprossenwand, Boxball sowie Medizinball. Die Aufnahme entstand ein Jahr später, und nun kann man sich trefflich streiten, ob der Film Piscator beeinflusst hat oder der neue Trend zu gesundem Leben den Szenenbildner.

Das Kino war ein Vierteljahrhundert jung, und so sog es alle Neuerungen begierig auf und spuckte sie auf der Leinwand wieder aus, als naive Abbildung, als reflektierte Verarbeitung, um ein Vielfaches verstärkt.

Es gibt eine wunderbare Folge von drei Originalabbildungen, und damit kommen wir doch zu „Metropolis“. Zunächst sieht man Kettelhuts ersten Entwurf der Häuserschluchten der Zukunftsmetropole, und er ist im wesentlichen eine Fortschreibung der damaligen Großstadt, die Bauten zweimal so hoch, eigene Bahnen für Züge, Autos und Fußgänger.

Statt der Kirche: der Turm Babel

Am Rand steht handschriftlich (von Kettelhut oder Lang): „Kirche fort, dafür Turm Babel“. Und wirklich, in der nächsten Fassung ist das letzte Relikt, eine Kirche mit drei Spiraltürmen, verschwunden. Ersetzt wurde sie von einem futuristischen Turm, der an der Spitze auskragt, weil dort Flugmaschinen landen; ein Wirrwarr von Brücken kreuzt den Raum zwischen den Hochhäusern.

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Die dritte Abbildung ist ein Blick in die Modellbauten der Zukunftsstadt im Studio Babelsberg, die die Menschen, die dazwischen stehen, ums Doppelte überragen. Sie arrangieren gerade kleine Spielzeugautos auf den Straßen, und wenn man die Szene später im Film ansieht, wird sie noch lebensfeindlicher wirken, weil die Kamera dann von oben in den Betondschungel hinein blickt; alles Menschliche wird auf Pünktchen reduziert.

Diese Ausstellung, eine Kooperation von Kunsthalle und Berliner Kinemathek, hat ein großes Herz für das Abseitige. Da hängt ein Vertrag zwischen dem Fotokünstler John Heartfield und dem Grafiker George Grosz, in dem sie vereinbaren, einen „Film über die Grundlagen der Einsteinschen Relativitätstheorie“ zu drehen – ein Film, der wirklich zustande kam!

Sigmund Freud lehnt 100.000 Dollar ab

Es gibt ein Telegramm des Hollywood-Großproduzenten Sam Goldwyn, in dem er Sigmund Freud 100.000 Dollar bietet, wenn er ihn bei der Verfilmung der „größten Liebesgeschichte aller Zeiten“ unterstütze – der Begründer der Psychoanalyse lehnte dankend ab.

Es gibt Passbilder von anonymen Menschen, die vielleicht in Photomatons (so hießen die Fotoautomaten mit Kabine früher) liegen gelassen wurden, und aus denen die Ausstellung Typen entwickelt, die Neue Frau, den Akademiker, die Tippmamsell, den Proletarier. Es sind die Prototypen der Weimarer Republik, und es ist zugleich eine Trumpfkarte des neusten, modernsten Mediums: die Großaufnahme.

„Kino der Moderne“, bis zum 24. März in der Bundeskunsthalle Bonn, vom 20. Juni bis 13. Oktober 2019 in der Deutschen Kinemathek Berlin. Katalog, Sandstein, Dresden, 29 €

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