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Geschichte Erster Weltkrieg

Die vergessene Front

Leitender Redakteur Geschichte
Eine Berliner Tagung rekonstruiert den anderen Krieg, der von 1914 bis 1918 den Osten Europas verwüstete.

Verdun und Flandern, Schützengräben und Gaskrieg: Das sind die geläufigen Chiffren für den Ersten Weltkrieg. Keine andere Formulierung fängt seinen Charakter so genau ein wie der Titel von Erich Maria Remarques Roman "Im Westen nichts Neues". Aber wer weiß schon, dass es die relativ gesehen höchsten Verlustraten dieses Völkerschlachtens keineswegs im Stellungskrieg in Belgien und Ostfrankreich gab, sondern in der Karpatenschlacht?

Durchschnittlich 200 000 Mann pro Monat verlor die österreichisch-ungarische Armee Anfang 1915 bei dem strategisch wie taktisch wahnsinnigen Versuch, ausgerechnet über dieses vereiste Mittelgebirge die russische Front aufzurollen. Die Lebenserwartung jedes einzelnen Teilnehmers dieser Offensive betrug - statistisch betrachtet - ganze fünf Wochen.

Die Winterschlacht in den Karpaten ist ebenso aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden wie die gesamte Ostfront des Ersten Weltkriegs. Zu Recht nannte deshalb das Militärgeschichtliche Forschungsamt (MGFA) Potsdam seine Tagung über die Kämpfe im Osten Europas "Die vergessene Front". Militärhistoriker aus acht Ländern beschrieben im Deutschen Historischen Museum Berlin einen Krieg, der mit dem im Westen geführten nur wenig gemein hatte.

Denn die Kämpfe im Osten wurden über lange Zeit von Bewegung geprägt. Und zwar paradoxerweise just deshalb, weil die Verkehrsverbindungen viel schlechter waren als in Belgien und Ostfrankreich. Reserven zum Abriegeln von feindlichen Durchbrüchen waren im Westen viel schneller vor Ort zu bringen, außerdem konnten dort dank dem kontinuierlichen Nachschub die Stellungen massiver ausgebaut werden.

Schließlich kämpften an den mehreren tausend Frontkilometern zwischen Ostsee und Schwarzem Meer weitaus weniger Truppen als an den 630 Kilometern vom Ärmelkanal bis zur schweizerischen Grenze.

Zwar waren die Zerstörungen im Westen intensiver als im Osten. Aber der Korridor solcher vernichtender Gewalteinwirkung war nur wenige Dutzend Kilometer tief. Im Osten dagegen praktizierten deutsche und österreichisch-ungarische, dann russische Truppen auf ihren Rückzügen eine Politik der verbrannten Erde. Für acht der zehn Staaten, die am 1. Mai 2004 in die EU aufgenommen wurden, brachten die Kämpfe an der Ostfront 1914 bis 1918 nicht nur die Nationwerdung, sondern zugleich die erste Verwüstung - die allerdings von den Gräueln in Hitlers Krieg noch übertroffen wurde.

Im Ersten Weltkrieg siegten an der Ostfront nicht die Entente-Staaten, sondern Österreich-Ungarn und Deutschland. Zwar nicht militärisch, denn als der deutsche Generalstab 1915 Russland keine finale Niederlage zufügen konnte, verlagerte Erich von Falkenhayn den Schwerpunkt seiner Truppen wieder nach Westen, um in Verdun zum "entscheidenden Sieg" zu kommen. Den Sieg und den demütigenden Diktatfrieden von Brest-Litowsk vom 1. März 1918 (der übrigens für Russland härter ausfiel als der Versailler Vertrag anderthalb Jahre später für Deutschland) ermöglichte vielmehr der Kollaps des Zarenreichs und vor allem die bolschewistische Revolution.

Im Frühjahr 1918 schien dem deutschen Generalstab um Hindenburg und Ludendorff der Gesamtsieg zum Greifen nahe. Man verlegte sogar erfahrene Truppen in den Osten, um Beute zu machen. Vergleicht man die Frontlinien im Osten 1918 und 1942, so zeigt sich, dass die kaiserliche Armee beinahe ebenso weit Richtung Ural vorgestoßen war wie später Hitlers Wehrmacht. Und zwar vorwiegend zu Fuß, bestenfalls mit Hilfe von Zugpferden.

Viele höhere Offiziere der späteren Wehrmacht hatten im Osten gekämpft. Umso erstaunlicher ist es, dass sie aus den fürchterlichen Erfahrungen der deutschen Herbstoffensive 1914 und der russischen Attacken von 1916 keine Schlüsse zogen. Denn nicht erst 1941/42 blieb ein deutscher Vormarsch im russischen Schlamm stecken; dasselbe ereignete sich bereits im Ersten Weltkrieg. Das Gleiche gilt, wie Hew Strachan (Oxford) vorführte, für die geostrategischen Vorstellungen in Deutschland.

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Die Tagung im Deutschen Historischen Museum Berlin, immerhin schon die 46. in der Geschichte des MGFA, zeigte aber auch, wie viele Forschungslücken zum Ersten Weltkrieg es noch aufzuarbeiten gilt. Das liegt wesentlich an den Folgen der Russischen Revolution: Jahrzehntelang galt alle Forschung der bolschewistischen Erhebung; der in Russland bis 1917 als "germanischer Krieg" bekannte Konflikt wurde aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Sogar die Soldatenfriedhöfe, die das Zarenreich für die millionenfach gefallenen russischen Soldaten errichten ließ, wurden unter Lenin und Stalin zerstört.

Ebenfalls unklar ist das Ausmaß an Kriegsverbrechen an der Ostfront im Ersten Weltkrieg. Vejas Gabriel Liulevicius (University of Tennessee) betonte: "Die deutsche Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg war auf ethnische Manipulation ausgerichtet und stand daher in scharfem Kontrast zum mörderischen Vernichtungsfeldzug des Zweiten Weltkriegs."

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