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Geschichte Horst Wessel

Die Bekenntnisse eines "christlichen Nazis"

Leitender Redakteur Geschichte
Goebbels' Propaganda stilisierte Horst Wessel zum "Märtyrer für das Dritte Reich". Jetzt kommt die Edition seiner nachgelassenen Bekenntnisschrift "Politika" heraus, die in Krakau entdeckt wurde.

Das evangelische Pfarrhaus als Institution genießt in Deutschland einen guten Ruf. Es gilt als Hort der Kultur und des kritischen Denkens, als "Chiffre für Bildung und Bürgerlichkeit". Denker und Literaten wie Gotthold Ephraim Lessing, Theodor Mommsen, Friedrich Nietzsche und Hermann Hesse waren die Söhne von protestantischen Geistlichen. Und Horst Wessel .

Nur auf den ersten Blick scheint das überraschend. Der wichtigste Märtyrer der NSDAP (1907-1930) und Dichter der Partei- und zeitweiligen Nationalhymne "Die Fahne hoch" ist geprägt worden von seinem Vater Ludwig Wessel, einem reaktionären und aggressiven Prediger. Keineswegs zu allen Zeiten waren deutsche Pfarrer Vorkämpfer dessen, was sich selbst heute als "fortschrittlich" definiert.

Gerade im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik gehörten viele von ihnen zu den prominenten Stimmen eines völkischen, antisemitischen Populismus. Ludwig Wessel starb 1922 überraschend, als sein ältester Sohn Horst gerade 14 Jahre alt war. Wohl deshalb rebellierte der Junge nicht gegen seinen Vater.

"Freudenrausch über die raschen Erfolge"

Der Krieg 1914 bis 1918 hatte seine Kindheit bestimmt, wie gleich zu Beginn seiner jetzt erstmals als Buch erschienenen politischen Bekenntnisschrift "Politika" deutlich wird: "Ich bin in einer politischen Zeit aufgewachsen. In mein erstes Schuljahr fiel der Beginn des Weltkrieges. Zwangsläufig wurde der Blick aller Jungen in dieser Zeit nur nach einer Richtung gelenkt. Der Freudenrausch über die raschen Erfolge unserer Truppen im Westen und im Osten ließ alle Kleinigkeiten des Werktages bedeutungslos erscheinen."

Mitten im Text bricht dieses Manuskript ab, obwohl Wessel offensichtlich schon Pläne für die Fortsetzung hatte; jedenfalls hatte er schon Fotos eingeklebt, um die er herumschreiben wollte. Vermutlich hinderte ihn sein Erfolg als "Führer" des SA-Sturms 5 in Berlin-Friedrichshain an der Fortsetzung seiner Aufzeichnungen. Als er im Januar 1930 bei einem Anschlag durch einen verfeindeten Kommunisten verletzt wurde, war die "Politika" immer noch Fragment. Nach fünf Wochen langem Ringen mit dem Tod starb er – und wurde sogleich als "Christussozialist" zum "Blutzeugen" der Hitler-Partei erhoben.

Der Fund in der Jagellionen-Bibliothek

Schon während des Dritten Reiches war bekannt, dass diese eigenhändige Schrift von Horst Wessel existiert: Die Staatsbibliothek Berlin erwarb das Original 1938 für die damals astronomische Summe von 7730 Reichsmark – fast fünf Monatsgehälter eines Ministers. Jedoch galt das Original lange Zeit als verschollen, bis der Historiker und Journalist Ralf Georg Reuth es in den Achtzigerjahren in der Jagiellonen-Bibliothek in Krakau wiederentdeckte.

Dort befand die Originalkladde mit eingeklebten Fotos, weil sie wegen der Luftangriffe auf die Reichshauptstadt nach Schlesien ausgelagert worden war. Inzwischen steht die Handschrift mit insgesamt 76 beschriebenen Seiten gescannt im Internet .

Jetzt haben der Berliner Kirchenhistoriker Manfred Gailus und Daniel Siemens, Autor einer hoch gelobten Wessel-Biografie, diese Schrift gemeinsam in kommentierter Form als Buch herausgegeben. Interessant ist das auf jeden Fall, schon weil diese Edition Wessels zwar saubere, trotzdem aber aufwendig zu lesende deutsche Handschrift problemlos zugänglich macht.

Eine nie zuvor gedruckte Quelle

Brisant aber wird der Band angesichts des halsstarrig vom Freistaat Bayern verteidigten Verbots , Adolf Hitlers Bekenntnisbuch "Mein Kampf" endlich in wissenschaftlich seriöser Form erläutert vorzulegen . Denn Gailus und Siemens zeigen, wie die Edition einer schwierigen NS-Originalschrift auszusehen hat.

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Die Herausgeber leiten den Text ausführlich ein, lassen dann auf 33 Seiten die eigentliche Quelle folgen, die anschließend – kleiner gesetzt, daher nur 23 Seiten stark – detailliert kommentiert wird. Da es sich bei der "Politika" um eine niemals zuvor gedruckte Quelle handelt, ist ein philologisch-textkritischer Apparat unnötig, wie er angesichts der zahlreichem, wenngleich meist eher unbedeutenden Veränderungen an "Mein Kampf" gewiss unverzichtbar wäre.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Schriften sehr unterschiedlich zu sein. Hitlers 800 Seiten starke Programmschrift wurde bekanntlich millionenfach gedruckt und weltweit wahrgenommen. Wessels nicht einmal ein Zehntel so langes Fragment dagegen wird erstmals mehr als 80 Jahre nach Entstehung einer nennenswerten Öffentlichkeit tatsächlich zugänglich.

Doch jenseits solcher äußerlichen Unterschiede zeigt sich rasch, dass beide Schriften derselben Gattung angehören. Genauer: Viel spricht dafür, dass Wessel sich für seine Schrift den "Führer" der NSDAP zum Vorbild erkoren hatte. Wie sonst sollte ein 21 Jahre junger Mann auf die Idee kommen, sein bisheriges Leben in Form einer politischen Autobiografie zu reflektieren?

Sicher liegen Gailus und Siemens richtig, wenn sie in dem Manuskript ein "politisches Bewerbungsschreiben für höhere Parteiaufgaben" sehen – seltsamerweise versehen sie diese überzeugende Interpretation mit einem Fragezeichen. Eindeutig ist zudem, was die "Politika" nicht war: kein Tagebuch, kein politisches Testament (Wessel konnte nicht wissen, dass er einem politisch motivierten Mordanschlag zum Opfer fallen würde) und auch kein literarischer Versuch. Dafür sind Anlage und Sprache schlicht zu simpel.

Die Edition wird abgeschlossen durch eine weitere Originalquelle von Wessels Hand, in der er eine "große Deutschlandfahrt" beschreibt. Sie ist nicht so evident politisch wie die "Politika", erlaubt aber dennoch Einblicke in das Denken eines nationalistisch-völkisch denkenden NSDAP-Nachwuchsstars.

"Es gab nichts, dem er sich nicht gewachsen zeigte"

Bemerkenswert sind besonders Wessels Bemerkungen zum nur zehn Jahre älteren, machtbewussten Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, den er konsequent mit "ö" statt "oe" schrieb: "Dr. Göbbels allein ist eigentlich das Verdienst zuzuschreiben, dass die Bewegung sich so schnell in der Berliner Öffentlichkeit durchsetzte. Was dieser Mann an Rednergabe und Organisationstalent aufwies, ist einzigartig. Es gab nichts, dem er sich nicht gewachsen zeigte."

Die Berliner NSDAP-Mitglieder hätten, so Wessel, an ihm "mit großer Liebe" gehangen, ja hätten sich für ihn "in Stücke schlagen" lassen: "Göbbels, das war wie Hitler selbst. Göbbels, das war eben unser Göbbels, um den uns mancher Gau beneidete." Durchaus zutreffend aus der Perspektive des Herbstes 1929, in der Wessel diese Sätze niederschrieb, urteilte er: "Vom Gegner gefürchtet und gehasst, wegen der beispiellosen Frechheit und Kühnheit, mit der er Zustände kritisierte und geißelte, ohne dass er dafür zu belangen gewesen wäre."

"Wessel bedauert den Mangel an Aktivismus"

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Umgekehrt war die Begeisterung weit weniger stark ausgeprägt. Dafür jedenfalls sprechen mehrere Eintragungen in den Goebbels-Tagebüchern, der leider ohne jeden Sachkommentar erschienenen wichtigsten Edition einer privaten Quelle aus der NS-Führung . Zum Beispiel die leicht genervte Notiz vom 16. Januar 1929: "Wessel bedauert den Mangel an Aktivismus in der SA. Ich sitze in der Zwickmühle. Werden wir in Berlin aktivistisch, dann schlagen unsere Leute alles kurz und klein. Und dann wird Isidor uns lächelnd verbieten. Wir müssen vorerst Macht sammeln."

Als "Isidor" bezeichnete Goebbels den Berliner Polizeivizepräsidenten Bernhard Weiß, einen überzeugten Demokraten und Gegner aller Extremisten von links und rechts, der mit scharfen Methoden gleichermaßen gegen Kommunisten und Nazis vorging. Die taktisch begründete Zurückhaltung, die Goebbels in der Reichshauptstadt Anfang 1929 für richtig hielt, konterkarierte der völkische Heißsporn Wessel. Da dem großgewachsenen, immer offen radikalen jungen Mann die Herzen der einfachen Parteimitglieder zuflogen, nicht dem kleinen, mit Klumpfuß und vermeintlich "jüdischem Äußeren" belasteten Gauleiter, bahnte sich in der Berliner NSDAP ein veritabler Konflikt an.

Goebbels stilisierte ihn zum Märtyrer für das Dritte Reich

Wessels Tod beendete diese Konfrontation, bevor sie eskalierte – und der Propagandist Goebbels wusste instinktiv, was er zu tun hatte. "Es geht ihm sehr schlecht", notierte er am 10. Februar 1930: "Er sieht aus wie ein Gerippe. Ich habe große Sorge, ob wir ihn durchbekommen." Genau das aber wollte Goebbels auf keinen Fall – Wessel "durchbekommen". Denn als "Märtyrer für das Dritte Reich" war er viel mehr wert.

Als der Schwerletzte schließlich am 23. Februar 1930 starb, begann der Gauleiter sofort mit den Vorbereitungen für die Beisetzung. Zwar erschien Hitler nicht persönlich am Grab – offenbar hatte er sowieso wenig mit Wessel anfangen können. Doch inszenierte sein Berliner Statthalter geradezu einen Wessel-Kult . Der Liedtext "Die Fahne hoch", gedichtet auf die Melodie eines "Königsberg-Liedes", wurde rasch zum Erkennungszeichen der NSDAP.

Darüber übrigens zerstritten sich die Mutter und die geschäftstüchtige Schwester von Horst Wessel mit Goebbels: Sie verlangten Tantiemen für die Nutzung des Liedtextes. Möglicherweise deshalb verkaufte die Familie die Handschrift der "Politika" an die Staatsbibliothek, statt sie der Berliner NSDAP zu übergeben, wie Gailus und Siemens vermuten. Deshalb liegt die Schrift heute in Krakau – und jetzt in einer mustergültigen Edition auch als Buch vor.

Manfred Gailus, Daniel Siemes (Hgg.): "'Hass und Begeisterung bilden Spalier'. Die politische Autobiografie von Horst Wessel". (Bebra, Berlin. 200 S., 18 Euro. ISBN 978-3898090926) .

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