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"Doktor Faustus" und die Seele der Deutschen

Leitender Feuilletonredakteur
Vor 60 Jahren vollendete Thomas Mann im kalifornischen Exil sein Hauptwerk "Doktor Faustus". Es wurde eine harsche Abrechnung mit dem "deutschen Wesen", als dessen Teil der Autor sich sah und das er kannte wie kaum jemand sonst.

Dieser Tage vor nunmehr 60 Jahren vermeldet das Tagebuch Thomas Manns: "Champagner-Abendessen zur Feier der Beendigung des Faustus und Verlesung des Echo-Kapitel. Sichtliche Ergriffenheit." Die Ergriffenheit Thomas Manns und der Seinen an jenem Februarabend in Pacific Palisades/Kalifornien wird sich nicht nur auf die sogenannte Echo-Episode bezogen haben. Diese ist die ergreifende Schilderung von des kleinen Nepomuk Schneidewein, genannt Echo, Ankunft und Tod.

Der Verlust des geliebten Neffen Echo wird von der Hauptfigur Adrian Leverkühn als Tribut an den Teufel empfunden. Mit dem hatte er einen Pakt geschlossen, um als Künstler ungehemmt produktiv sein zu können - und dafür seine Seele verkauft. Nach dem Freund und der Frau war Leverkühn mit dem Kind ein Drittes genommen.

Aber die Ergriffenheit vor allem von Thomas Mann selbst hatte andere Gründe. Er musste an diesem kalifornischen Februarabend das Gefühl haben, sein Lebenswerk sei vollbracht. Mit dem "Doktor Faustus" hatte er sein Letztes und Bestes geben wollen. Dieses Alterswerk hatte sein "Parsifal" sein sollen, "Geheimwerk und Lebensbeichte". Aber es war doch, falls das überhaupt möglich ist, mehr.

Der "Doktor Faustus" war ein Musikerroman, der die früh in Thomas Manns Werk angelegte Künstlerproblematik, samt der These von der Unvereinbarkeit von Kunst und Leben, zu einer allerletzten, allerschwärzesten Variante emporführte. Der "Doktor Faustus", der das Endzeitgefühl von der Sackgasse, in die sich die moderne Kunst manövriert hatte, nur im Pakt mit dem Teufel lösen zu können meint - der "Doktor Faustus" ging weit über diese Kernthemen hinaus.

Thomas Manns Behandlung des Faust-Stoffs wurde von seinem Schöpfer auch verstanden als Auseinandersetzung, ja als Abrechnung mit dem Lande, aus dem er kam. Als einziger seiner Romane ausschließlich in den Vereinigten Staaten geschrieben (größtenteils sogar vom amerikanischen Staatsbürger, der Thomas Mann am 23. Juni 1944 geworden war), stellte doch der "Doktor Faustus" mit Bedacht das Deutscheste dar, was Thomas Mann jemals hervorgebracht hat.

Etwas auch, das zeigte, wie wenig ihn die amerikanische Lebenssphäre prägen konnte, in die er doch (anders als die meisten seiner Kollegen, die vor Hitler flohen) gern und neugierig eingetreten war.

Für sein Schaffen war Amerika unwichtig. Mochte er sich auch als akademischer Lehrer, als Publizist, als unermüdlicher Vortragsreisender, der mehr als dreißig amerikanische Städte besuchte, redlich bemüht haben, seine neue Heimat mit allen Sinnen aufzunehmen. Seine Einbildungskraft erreichte Amerika nicht. Seine Einbildungskraft blieb auf deutsche Themen und Erfahrungen angewiesen.

Die Erfahrung, die zu verarbeiten er sich in seinem "Doktor Faustus" vorgenommen hatte, dessen Niederschrift er am 23. Mai 1943 begann, war Deutschlands Abmarsch in die Barbarei. Mann sah diesen Abmarsch als eine weite Strecke. Er sah Deutschland den abschüssigen Weg mit Luther beschreiten, diesem ersten Berserker der deutschen Geschichte, wie Mann ihn verstand. Er sah die deutsche Anfälligkeit für das Barbarische, Dämonische als Teil dessen, was später unter Historikern als "deutscher Sonderweg" und "deutsches Sonderbewusstsein" von sich reden machte; Thomas Mann nennt es "deutsche Sonderart".

Diese kulminierte im Nationalsozialismus und dessen unfassbaren Verbrechen. Und so geizt denn der "Doktor Faustus", wie auch die übrigen Stellungnahmen seines Autors aus dieser Zeit, nicht mit den vehementesten Anklagen gegen "das Deutsche". Vor allem die Gegenwarts-Barbaren, Nazis und alle, die ihnen zu Willen waren, trifft das erbittertste Verdikt.

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"Denn ist es bloße Hypochondrie", sinniert irgendwann gegen Ende des Romans Serenus Zeitblom, der im Roman "vorgeschickt" wird, um die Lebensgeschichte des "deutschen Tonsetzers" Adrian Leverkühn zu erzählen, "ist es bloße Hypochondrie, sich zu sagen, dass alles Deutschtum, auch der deutsche Geist, der deutsche Gedanke, das deutsche Wort, von dieser elenden Bloßstellung mit betroffen und in tiefe Fragwürdigkeit gestürzt worden ist? Ist es krankhafte Zerknirschung, die Frage sich vorzulegen, wie überhaupt noch in Zukunft ,Deutschland" in irgendeiner seiner Erscheinungen es sich soll herausnehmen dürfen, in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun?" Gewiss, dies ist Figurenrede, Figurenfrage, aber man darf sicher sein, dass der Autor sie sich ebenso vorlegte wie der von ihm erfundene Protagonist Serenus Zeitblom.

Die Frage, wie es weitergehen könne, womit Deutschland wieder die Berechtigung erwerben könne, "in menschlichen Angelegenheiten den Mund aufzutun", stellte Thomas Mann ganz ausdrücklich nicht. Therapie war seine Sache kaum. Ihn interessierte erstens die Diagnose und zweitens die Anamnese, also die Geschichte der Krankheit.

Aus diesen Gründen hat sich Thomas Mann unmittelbar nach der Niederschrift des "Doktor Faustus" entschlossen, die Entstehungsgeschichte dieses Romans nachzureichen. Er, der immer der beste Interpret seiner eigenen Hervorbringungen war, hat in dieser Selbstauslegung wahrscheinlich sein stärkstes exegetisches Stück vorgelegt, zumindest aber dasjenige, das sich am spannendsten liest.

Wer immer sich mit dem "Doktor Faustus" beschäftigt, sollte daher nicht verfehlen, sich auch mit dem Text "Die Entstehung des Doktor Faustus" zu befassen, der zwischen Juni und Oktober 1948 entstand und 1949 auf den Markt kam. Hier wird die Grundidee des Romans, die Ineinssetzung von Adrian Leverkühns und Deutschlands "Höllenfahrt", noch einmal sorgfältig herauspräpariert, mit all jenen bisweilen sogar ins Burleske hinüberspielenden Kommentaren zum Zeitgeschehen, die ein Thomas Mann, nicht aber sein Serenus Zeitblom sich gestatten konnte.

Ein Beispiel dafür ist jenes unvergessliche Farewell, das Thomas Mann auf die Nachricht vom Selbstmord Görings hin notiert: "Fahr hin, jovialer Mordwanst! Du hast es wenigstens genossen, während dein Herr und Meister nie nirgends gelebt hat als in der Hölle."

"Die Entstehung" belehrt uns auch darüber, was Thomas Mann für seinen "Doktor Faustus" gelesen hat, welche Epochen und Themenfelder es waren, an denen seine Tiefbohrung ansetzte, um der These, die dem Roman zugrunde liegt, Fleisch und Leben beizugeben.

Dass dabei musikwissenschaftliche Werke und Biografien im Mittelpunkt stehen, versteht sich von selbst. Von allen Künstlern, aus denen die Figur Adrian Leverkühns sich zusammensetzt, hatte es ihm überraschenderweise Hugo Wolf (sieht man von Nietzsche ab, der einen eigenen Lektüreschwerpunkt darstellt) am meisten angetan. Dessen Briefe sowie die Memoiren von Berlioz und Strawinsky (wegen ihres ausführlichen Eingehens auf den Musikbetrieb ihrer Zeit), aber auch Lebensbeschreibungen Beethovens, Mozarts und Wagners werden, des stimmigen Settings halber, herangezogen. Hinzu kommt jede Menge Geschichte der neuesten Musik. Dabei liegt der Akzent auf amerikanischen Darstellungen, aber vor allem natürlich auf der musiktheoretischen Publizistik von Theodor W. Adorno, in Sonderheit auf dessen weitausgreifender "Zur Philosophie der Musik".

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Die Thomas-Mann-Forschung hat später behauptet, "Die Entstehung" sei ohnehin im Grunde nur geschrieben worden, um den starken Anteil Adornos gebührend herauszustreichen, der, sein Nachbar im kalifornischen Exil, in den Hochzeiten der Produktion wöchentlich mit dem Meister konferierte. Der Musiksoziologe aus Frankfurt am Main ging ihm bei den Analysen Beethovenscher Klaviersonaten, deren Zauber dann im Roman Wendell Kretzschmar dem jungen Leverkühn erschließen darf, ebenso zur Hand wie bei der Erklärung von Schönbergs Zwölftonmusik. Ihrer bedient sich der späte Leverkühn. Adorno half auch beim Erfinden sämtlicher Kompositionen des "Tonsetzers" selbst, die ja in einer so verblüffenden Genauigkeit im Roman beschrieben werden, dass oft gemeint wird, es müsste sie tatsächlich geben, und irgendwann würden sie aus den Papieren Adornos wieder auftauchen.

Doch so wichtig Adorno für den musiktheoretischen Gehalt des Romans wurde, wichtiger für Thomas Manns Auffassung vom Deutschsein als Verhängnisgeschichte sind die historischen Schriften, bei denen er sich für den altdeutsch-theologischen Anstrich vor allem der Leverkühnschen Jugend- und ersten Studienjahre bedient - und am Ende des Romans erneut, wenn es um Leverkühns Spätwerk geht.

Neben Luthers Briefen und seinem Kommentar zur Apokalypse des Johannes sind dies einerseits Primärtexte in großer Zahl: das Volksbuch vom Doktor Faust, die "Gesta Romanorum", der "Hexenhammer", Schwänke, Freidanks "Bescheidenheit" aus dem 13. Jahrhundert, aber auch so abgelegene philologisch-literaturwissenschaftliche Untersuchungen wie "Sprichwörter des Mittelalters" von Samuel Singer und "Die Sage vom Faust" eines gewissen J. Scheible aus Stuttgart von 1847. Ergänzt wird auch hier das Programm wieder durch Biografien, vor allem Martin Luthers, aber auch, um einmal einen Protagonisten des "anderen" Deutschland jener Zeit zu haben, Tilman Riemenschneiders, der sich im Bauernkrieg bekanntlich nicht auf die Seite der Obrigkeit schlug und das, nach Niederschlagung der Aufstände, mit dem Abhacken seiner Hände bezahlen musste.

Und noch etwas kam hinzu, das scheinbar so gar nichts mit dem einerseits auf altdeutsch gestimmten, andererseits die zunehmende Barbarisierung der deutschen Intellektuellen im 20. Jahrhundert zum Thema machenden Gehalt des Romans zu tun hat: das 19. Jahrhundert. Ja, Thomas Mann liest parallel zur Arbeit am "Doktor Faustus" Heine und Hebbel, Kleist und E.T.A. Hoffmann, vor allem aber die Kardinalfiguren dessen, was er die "deutsche Innerlichkeit" nennt, die er schon in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" von 1918 zum Kernbezirk alles Deutschen erklärt hatte: Eduard Mörike, Adalbert Stifter und Gottfried Keller.

Deren Musikalität und Weltscheu (bei aller Weltbedürftigkeit) war ja die geistige Sphäre, aus der er selber stammte. Dieser Welt musste er sich rückversichern, als sein Deutschland unterging. Und es gehört zu den bewegendsten Partien in der "Entstehung", wenn er dieses romantische, gemütvolle, unpolitisch-spekulative, dabei gutartig-friedliche Deutschland immer wieder dankbar hervorhebt - wohl wissend, dass es der allgemeinen Barbarei genauso anheimgefallen war wie alles Übrige auch.

Er, der größte lebende Autor deutscher Sprache, der es mitunter nicht ungern gesehen hatte, wenn deutsche Städte "zur Strafe" in Schutt und Asche sanken, er konnte dieses eigentliche, andere sagen: geheime Deutschland nicht von sich abtun, ohne sich selbst zu negieren. Und so fand er denn, allen Bannflüchen des "Doktor Faustus" zum Trotz, zu jenen großartigen Worten, die in dem zeitgleich entstandenen Essay "Deutschland und die Deutschen" stehen.

Hier entwickelt er die These, das böse Deutschland sei das fehlgeschlagene gute, man könne das eine Deutschland nicht ohne das andere haben, um am Ende zu sagen: "Nichts von dem, was ich Ihnen über Deutschland zu sagen versuchte, kam aus fremdem, kühlem, unbeteiligtem Wissen; ich habe es auch in mir, ich habe es alles am eigenen Leibe erfahren."

Und eben darum, weil Thomas Mann als Deutscher "es" auch in sich hatte und weil das Deutschsein in allen seinen Erscheinungsformen seiner eigenen geistigen Physiognomie zugrunde lag, brauchte er für seinen "Doktor Faustus" nicht jene Gesamtdarstellungen, die wir heute haben: all die Bücher von Helmuth Plessner, Norbert Elias, Gordon A. Craig und wie sie alle heißen, die ihre Studien "über die Deutschen" dann vorgelegten. Es reichte, wenn Thomas Mann die Primärtexte las - und in sich selbst hineinhorchte. Denn wo er war, da war die deutsche Kultur.

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