Vielleicht muss ich ausnahmsweise mal persönlich werden am Anfang. Wenn ich irgendwann auf einer einsamen Insel strande, auf der es außer mir und der obligatorischen Palme wundersamerweise nur noch ein Abspielgerät für exakt eine Aufnahme klassischer Musik gibt, würde ich mir doch sehr wünschen, dass es sich bei diesem Werk um Mahlers Neunte handelt.
Das muss ich wahrscheinlich erklären, bevor ich zu jener Aufnahme komme, die ich dann doch lieber auf dem Eiland vorfinden würde, als meinen bisherigen Favoriten – Leonard Bernsteins Einspielung mit den New Yorker Philharmonikern aus den 60ern. Potentiell muss ja die Sinfonie, mit der man auf der berühmten einsamen Insel ausgesetzt ist, reichen für den Rest des Lebens – man weiß ja nie, wann wer vorbeikommt.
Sie muss ja nicht nur die Einsamkeit der Gegenwart aufheben und spiegeln, sondern vom Getöse und vom prekären Wesen jener Welt da draußen erzählen, die man potenziell nie wieder sieht. Von den sich ankündigenden Katastrophen und den gewesenen Schönheiten. Muss trösten, muss hoffen und lieben lehren, gegen alle Dunkelheiten.
Mahlers Neunte, entstanden 1909 nach dem Diphtherie-Tod von Putzi, Mahlers geliebter Tochter Maria Anna, nach der Diagnose einer möglicherweise todbringenden Herzerkrankung und dem offensichtlichen Scheitern seiner Ehe mit Alma, in einem Schaffensrausch erfunden auf Wanderungen in den Dolomiten und niedergeschrieben in der Einsamkeit des kargen Komponierhäuschens beim Toblacher Trenker-Hof in Südtirol, ist – wie nichts sonst in der Musikgeschichte – dieser Weltersatz, diese Lebenserzählung. Eine lebensbejahende Weltentsagung.
Nun glaubte man bisher, dass man schon ziemlich genau wüsste, wie diese anderthalb Stunden Musik, mit denen man nicht fertig wird, klingen müssten. Wie sie geklungen haben im Kopf von Mahler, für den im Entstehungsjahr 1909 gerade die New York Philharmonic Society gegründet worden war und mithin die New York Philharmonics.
Es gab Aufnahmen von Bruno Walter, der 1912, ein Jahr nach Mahlers Tod, die Uraufführung mit Mahlers altem Orchester, den Wiener Philharmonikern, dirigiert hatte. Es gab die haarkleinen Angaben Mahlers in der Partitur („Mit Wut“, „Wie ein schwerer Kondukt“). Und soviel, dachte man in seiner Verblendung, hat sich auch am Instrumentarium seit 1909 kaum geändert, weniger jedenfalls als im Klang der Hörner, Oboen und Streicher von Bach bis heute.
Das stimmt natürlich. Trotzdem muss man sich den Unterschied zwischen dem Orchesterklang der Wiener Philharmoniker von 1909 und dem Klang von heute ungefähr vorstellen wie den zwischen dem Antlitz eines 60-Jährigen vor und nach einer umfassenden Botox-Behandlung. Das wissen wir allerdings erst seit einem anfangs fast halb-wahnsinnigen Experiment, das wiederum am Ort der Entstehung der Neunten, im heutigen Dobbiaco seinen Ausgang nahm.
Da hat Claudio Abbado das Mahler Academy Orchestra gegründet. Eine geradezu geniale Nachwuchsförderorganisation, wo sich ein halbes Hundert hochbegabter junger Musiker mit einem anderen halben Hundert festangestellter Philharmoniker von hoch angesehenen Klangkörpern treffen zur gegenseitigen Befeuerung.
Instrumente von Ebay
Man trifft sich natürlich nicht – im zwischendurch in einem Hängebauchschweingehege gelegenen, inzwischen wunderbar renovierten – Komponierhäusel, sondern im ortsansässigen Grandhotel. Und hatte die Idee, jenes Instrumentarium zu rekonstruieren, mit dem Mahler Anfangs des 20. Jahrhunderts, als er noch Hofopern- und Philharmonikerchef war, den Klang der Wiener Philharmoniker revolutioniert hatte.
Die Toblacher kauften in aller Welt „Mahler“-Instrumente auf, alte Hayek-Oboen, Hörner, Trompeten, Hörner, machten Jagd auf Ebay, ließen Instrumente nachbauen. Blieben bei der Hardware aber nicht stehen, bei den Darmsaiten, den Bohrungen der Bläser, den Rohren der Fagotte. Die Hardware hatte natürlich Folgen für den Klang.
Gerade die Bläser geben einen vollkommen anderen Naturlaut von sich, sind zu ganz anderen Explosionen, Grellheiten fähig und gleichzeitig zu schattenhafter Auflösung, körperhafter Auslöschung ins Nichts, wie man sie noch nie gehört hat. Was Schönberg und Berg und die Avantgardisten nach Mahler gerade an dieser Sinfonie ohne Tonalitätsangabe faszinierte, wurde noch nie so offensichtlich wie in dieser – wiederum mustergültig in 30 Tracks unterteilten – Toblacher Aufnahme (Alpha Classics).
Zumal das Revolutionäre nicht im Klang dieser Neunten stecken bleibt, sondern von Dirigent Philipp von Steinaecker, ehemals Assistent von Claudio Abbado, auch derart in eine weltanschauliche, musikantische musikalische Zwangsläufigkeit gebracht wird, dass man schon nach einer Viertelstunde ziemlich überzeugt davon ist, dass, sollte man in absehbarer Zukunft auf einem Eiland mit irgendwas anderem stranden als mit dieser Einspielung, man es vielleicht doch mit dem Schwimmen versuchen sollte.