Vielleicht sollte man sich für die kommenden gut vier Minuten in den nächstgelegenen Botanischen Garten begeben. Zumindest in Gedanken. In ein vollgewuchertes Gewächshaus. Die Luft ist schwül. Das Grün ist dicht.
Irgendwo knackst es im Unterholz. Seltsame Geräusche schwirren herum. Klänge eines sinfonischen Urwalds, die einem indisch und merkwürdig bekannt vorkommen. Spätromantisch. Spätklassisch. Mit einem Hauch von Bollywood.
Diese Nötigung zur musikalischen Imagination war leider nötig. Weil es in den kommenden vier Minuten um Walter Kaufmann geht. Und um seine Musik. Und die klingt halt, als hätte es den Tiger von Eschnapur in den Wiener Wald verschlagen. Oder besser: Einen kapitalen Rothirsch in den indischen Dschungel. Und das kam so.
Walter Kaufmann kommt fernab von Indien 1907 in Karlsbad zur Welt. Musikalisch hochbegabt, wie er ist, geht er, da hat er die Schule noch nicht vollständig absolviert, nach Berlin. Kaufmann studiert bei Franz Schreker Komposition und Musikwissenschaft beim Urvater der Musikethnologie Curt Sachs.
Es sind die subtropischen 20er-Jahre. Alles ist musikalisch möglich. Und Kaufmann saugt alles ein. In Prag studiert er an der Deutschen Universität. Er hat ein Zimmer bei Franz Kafkas Mutter. Er freundet sich mit den Resten des Kafka-Kreises an – Werfel, Josef Suk, Willy Haas, dem Erfinder der „Literarischen Welt“.
Max Brod, Kafkas Stellvertreter auf Erden, nennt ihn einen „Musiker von fortreißender Instinktsicherheit“. Eine Doktorarbeit über Mahler schreibt er. Zieht sie aber zurück, weil er herausfindet, dass sein Doktorvater eine völkische NS-Jugendgruppe leitet.
Kaufmann komponiert, Kaufmann dirigiert. Zieht über die musikalischen Dörfer. Wird Assistent von Bruno Walter in der Charlottenburger Oper (heute Deutsche Oper), heuert bei der Ufa an und bei Radio Prag, schreibt Filmmusiken, Kammermusik, Sinfonien, Operette, Oper.
Bei Curt Sachs lernt er die ganz anderen musikalischen Ordnungen fernöstlicher Musik. Verschränkt sie in seinen Kompositionen mit all dem, was im kompositorischen Treibhaus der Zwanziger zwischen Klezmer, Jazz und Zwölftontechnik ins Kraut schießt.
Er spricht gewissermaßen musikalisch perfekt Indisch, als absehbar wird, dass Juden in Zentraleuropa eher den Tod als ihr Glück finden. Ein Visum für Indien ist verhältnismäßig leicht zu bekommen. Gut ein halbes Dutzend Jahre vor Willy Haas geht Kaufmann mit seiner Frau Gertrud, der Nichte von Franz Kafka, 1934 nach Indien.
Kaufmann wird Lehrer von Zubin Mehta
Bombay ist für europäische Musikinstrumente, Klaviere, Geigen, Celli, klimatisch zwar ziemlich tödlich. Zentraleuropäischen Juden rettet es das Leben. Kaufmann schlägt sich durch. Kommt mit dem Geiger Mehli Mehta zusammen, gibt seinem Sohn Zubin, der später Indiens erster Weltdirigent werden wird, Klavierunterricht, gründet die Bombay Chamber Music Society, die immer donnerstags Konzerte veranstaltet.
Als das All India Radio (AIR) gegründet wird, schreibt Kaufmann die Eröffnungsfanfare, die heute noch Millionen von Indern kennen, und die erste Radio-Oper. „Ich bin“, schreibt er nach Prag, „der Musikhäuptling des AIR.“
Mit Willy Haas und dem in Deutschland bei der Ufa ausgebildeten Filmproduzenten, Drehbuchautor und Regisseur Mohan Dayaram Bhavnani wird Kaufmann einer der Urväter von Bollywood. Mit der Rückkehr nach Prag wird es, als es vorbei ist mit dem mörderischen Spuk der Nazis, nichts für den deutschsprachigen Juden.
Über London und New York landet Kaufmann in Winnipeg. Das ist in Kanada. Kaufmann macht das Winnipeg Symphony Orchestra zu einem professionellen Klangkörper von überregionaler Ausstrahlung. Glenn Gould spielt da. Darius Milhauds, einer der grandiosesten französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, vermittelt Kaufmann dann nach Indiana an die Universität von Bloomington.
Kaufmann lehrt Musikwissenschaft und Musikethnologie, schreibt Grundsatzwerke über fernöstliche Notationen, komponiert weiter. „Sechs indische Miniaturen“ zum Beispiel, die fernab jeder kulturellen Aneignung von einem extrem faszinierenden musikalischen Zauber sind.
Vor vierzig Jahren stirbt Kaufmann in Bloomington. Die Nachwelt hat ihm keine Kränze gewunden. Er wird – kaum verlegt, kaum gespielt – wegen erwiesener Querständigkeit zum notorisch gedächtnisschwachen, extrem höhepunkt- und ordnungsversessenen Musikbetrieb vergessen wie beinahe das gesamte Werk von Opfern des Holocaust.
Ein glücklichmachender Klangdschungel
Erst allmählich wagen sich Musiker in Kaufmanns totgesagten Garten und schauen sich um. Eine CD des ARC-Ensembles mit Kammermusik gibt es – zwei der mehr als zehn Streichquartette sind darauf (Chandos Records). Das dritte Klavierkonzert, zwei Sinfonien und die sechs Indischen Miniaturen hat jetzt das RSO Berlin unter David Robert Coleman für CPO eingespielt. Mit der Pianistin Elisaveta Blumina.
Die stürzt sich in jeden unbekannten Klangdschungel. Und kehrt glücklichmachend zurück. Selten aber derart wie aus Kaufmanns Tropenhaus. Das ist eine staunenmachende Musik. Das macht in seiner herrlichen Wechselbalghaftigkeit enorm süchtig. Und man wünscht sich nichts mehr als würde sich die Durchquerung dieses Urwalds noch Stunden hinziehen.