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Kultur Weltuntergang

Der verstörende Boom der „Climate Fiction“

Freier Mitarbeiter im Feuilleton
Dürre unter roter Sonne Dürre unter roter Sonne
Quelle: Getty Images/Anton Petrus
Sogenannte „Climate Fiction“ boomt. Voller Angstlust malen darin Autoren wie T. C. Boyle oder Habecks Ehefrau Andrea Paluch den Weltuntergang durch Klimawandel aus. Doch der Brite J. G. Ballard konnte es schon vor 60 Jahren besser. Ein Vergleich zeigt, was er heutigen Zeitgeistökos voraus hatte.
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Climate-Fiction ist ein Boom-Genre der Gegenwartsliteratur. War die Science-Fiction mit dem Aufbruch in ferne Welten und der Hoffnung auf wissenschaftliche Revolutionen für die Populärkultur des 20. Jahrhunderts stilprägend, gibt inzwischen die Climate-Fiction – kurz: Cli-Fi – mit ihren Naturkatastrophen und Weltuntergängen den Ton an. Im vergangenen Jahr waren „Blue Skies“ von T.C. Boyle oder „°C – Celsius“ von Marc Elsberg große Bestseller. Und der Trend geht weiter: Mit Blick auf die Verlagsprogramme dieses Jahres kündet die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ gar einen „Frühling der Dystopie“ in der Bücherwelt an.

Passend zum literarischen Zeitgeist sind zwei Neuübersetzungen aus dem Frühwerk von J.G. Ballard erschienen: „Die Dürre“ und „Die Flut“. Der 1930 in Shanghai geborene und 2009 in Großbritannien gestorbene Ballard – die Vornamen James Graham mit J.G. abgekürzt – ist eine der wichtigen Gestalten der dystopischen Science-Fiction. Mit „Liebe & Napalm. Export USA“ (1970) taucht er tief in die kollektiven Traumwelten einer verunsicherten Weltmacht ein. Und seine Beschreibung des perversen Todestriebs in der automobilen Gesellschaft „Crash“ (1973) gehört seit der Verfilmung von David Cronenberg zum Kanon der Popkultur. Seit 2016 legt der Zürcher Verlag Diaphanes deutsche Übersetzungen von Ballard neu auf.

Mit „Die Dürre“ und „Die Flut“, 1962 als „The Drowned World“ und 1964 als „The Burning World“ erschienen, scheint Ballard den Climate-Fiction-Hype prophetisch vorweggenommen zu haben. Umgekehrt könnte man sagen, dass die literarische Lust an apokalyptischen Katastrophen so alt ist wie die großen Erzählungen der Menschheit selbst, siehe unter anderem die biblischen Plagen oder die Arche Noah. Jedenfalls zeigt Ballard, der sich von Surrealismus und Psychoanalyse inspiriert stets für den „inneren Raum“ des menschlichen Erlebens interessiert hat, dass er ein Großmeister im Beschreiben von Katastrophen ist.

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Das Außergewöhnliche bei Ballards Katastrophenliteratur ist, dass sie keinen Heroismus heraufbeschwört. Es gibt keine „Letzte Generation“, die sich am Ruder festklebt, das sie herumzureißen gedenkt – im Gegenteil. Es gibt nur verlorene Figuren, die einer Flut oder Dürre nicht weniger hilf- und machtlos gegenüberstehen wie dem „normalen“ Naturprozess auch. Dass in „Die Dürre“ eine feine Plastikschicht aus Industrieabfällen die Ozeane verklebt und das Verdunsten verhindert, zeigt nur die Hybris, die allen Ideen der Naturbeherrschung bis heute anhaftet. Darauf folgt der „ozeanische Vergeltungsschlag, so einfach wie gerecht“.

Das Szenario der Romane ist denkbar einfach. In einem Fall steht die Welt unter Wasser, in dem anderen Fall verschwindet das Wasser. Ballard beschreibt ein versunkenes London und verdorrte Geisterstädte. Es sind Ruinen einer Zivilisation. Die Menschen, die durch Ballards Fluten oder Wüsten irren, leben in einem zerfallenden Bezugssystem. Sie folgen sozialen Regeln, die offensichtlich an Sinn verloren haben, eine neue Orientierung gibt es noch nicht. Wissenschaftler verlieren den Verstand, Gesellschaftsdamen dämmern vor Gemälden von Max Ernst dahin. Abenteurer und Sektenführer können sich noch am ehesten anpassen.

Was Ballard durchspielt, ist Evolution im Zeitraffer. Sein Interesse bleibt dabei bei den inneren Welten der Menschen, denen ihre eigene Gesellschaft wie Sand zwischen den Händen zerrinnt. Auch die seelischen Landschaften verändern sich. Unbekannte oder lang vergessene Lebensformen beginnen unter den Extremumständen zu sprießen. „Viel wichtiger als die Kartierung der Häfen und Lagunen der äußeren Landschaft war die Kartierung der geisterhaften Deltas und leuchtenden Strände der versunkenen neuronalen Kontinente“, heißt es in „Die Flut“. Die Katastrophe bringt etwas bedrohlich Archaisches zum Vorschein.

Sah spießig aus, schrieb aber nicht so: J. B. Ballard
Sah spießig aus, schrieb aber nicht so: Ballard
Quelle: picture alliance / Photoshot

Die Handlung kann man vernachlässigen, es geht bei Ballard mehr um Atmosphären und Bilder. Das ist strikt literarisch und verfolgt keinerlei volkspädagogischen Zweck. Hier wird nicht die Katastrophe geschildert, um zu einer Einsicht oder Umkehr zu bewegen, die letztlich aus der Alten Welt stammen. Das Paradebeispiel dieser Pädagogisierung der Apokalypse ist das Kinderbuch „Die besten Weltuntergänge“ (2021) von Andrea Paluch, der Frau von Robert Habeck. Die Weltuntergänge, darunter auch eine Flut und eine Dürre, dienen hier bloß als infantile Folie für grüne Erweckungsfantasien („wunderschön, erschreckend, inspirierend“).

Paluch versinkt in Harmlosigkeit (verhasster Algensalat und Kajaktouren bei Flut) und Brutalität (Bewaffnete schirmen das Wasser bei Dürre ab), nur um unter dem Titel „Zurück zur Natur“ eine Edelkitschidylle anzupreisen (Solarflachbildschirme und E-Autos), was sowohl die Weltuntergänge als auch die Utopie zur instrumentellen Karikatur werden lässt. Ballard hingegen will nicht erziehen (und nicht zurück zu einer Natur), sondern literarische Erfahrung mitteilen. Darum schreibt er die schöneren Weltuntergänge. „Die Fiktion ist bereits vorhanden. Aufgabe des Schriftstellers ist, die Realität zu erfinden“, sagte Ballard einmal.

In „Die Flut“ und „Die Dürre“ schildert Ballard, wie die Veränderung natürlicher Systeme mit dem Kollaps sozialer und psychischer Systeme einhergeht. In seinem späteren Werk verlegt er sich noch mehr auf die Implosion der sozialen Welten. In „High-Rise“ (1988) kommt es in der perfekt geplanten Idylle eines Hochhauses zu einem archaischen Kampf aller gegen alle. Warum? Die Bewohner sind wohlhabend, gebildet, mit glücklicher Kindheit. Vielleicht, so sagt in einer Szene ein Psychiater, ist es „unser ganz und gar nicht unschuldiges post-freudianisches Selbst“, weil die perfekten Leute nie die Chance hatten, pervers zu sein.

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In „Millennium People“ (2003) und „Das Reich kommt“ (2006) erkundet Ballard die Vorstädte der Mittelklasse, in denen sich eine diffuse Revolte ausbreitet. Den Menschen scheint nichts zu fehlen, trotzdem zetteln sie einen Bürgerkrieg an. Es sind verzweifelte Versuche, der Enge der rationalen Welt und der Langeweile des Konsumismus zu entfliehen – ein Aufstand gegen den erschöpften Liberalismus im Herzen des Westens. „Die Zukunft wird ein Kampf zwischen riesigen Systemen konkurrierender Psychopathien sein“, heißt es in „Das Reich kommt“. Je geordneter die Gesellschaft erscheint, desto verrückter wird sie an sich selbst.

Ballard ist kein Warner und Mahner, sondern ein Schöpfer surrealistischer Szenarien, in den die mächtigen untergründigen Ströme des Alltags zum Vorschein kommen. Er arbeitet sich an den Mythen der Moderne ab. So landet sein Robinson Crusoe in „Die Betoninsel“ (1975) unter einem Autobahnkreuz, ohne Entkommen. Ballard zeigt sich von den postmodernen „Nicht-Orten“, wie sie Marc Augé nannte, so fasziniert wie von den Naturkatastrophen. Niemand wirft so einen unheimlichen Blick auf die Welt wie J.G. Ballard. Wenn das 20. Jahrhundert kafkaesk war, so könnte sich das 21. Jahrhundert als ballardesk erweisen.

J.G. Ballard: Die Dürre. Diaphanes, 256 Seiten, 18 Euro.

J.G. Ballard: Die Flut. Diaphanes, 224 Seiten, 18 Euro.

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