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Kultur Reinhart Koselleck

„Wissen ist besser als Besserwissen“

War als deutscher Kriegsgefangener im Gulag: Reinhart Koselleck (1923-2006) War als deutscher Kriegsgefangener im Gulag: Reinhart Koselleck (1923-2006)
War auch im Gulag: Reinhart Koselleck (1923-2006)
Quelle: Bruni Meya/akg-images/picture-alliance
Der Historiker Reinhart Koselleck hat nach dem Krieg die Überreste der IG Farben in Auschwitz aufgeräumt. Gegen das „Erinnerungskollektiv“ der Bundesrepublik setzte er das „Vetorecht der persönlichen Erfahrung“. Jetzt wäre er 100 geworden.

Zum 100. Geburtstag Reinhart Kosellecks am 23. April sind im Suhrkamp Verlag drei Bücher erschienen, die zeigen, wie Koselleck die Entwicklung der Geschichtswissenschaft beeinflusst und zugleich, oft in polemischer Zuspitzung, die Geschichtspolitik der Bundesrepublik kritisch kommentiert hat. Der umfangreiche Band „Geronnene Lava“ bündelt Kosellecks „Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung“, darin werden die „Erlebnisspuren des Kriegsteilnehmers und Kriegsgefangenen“ zum ersten Mal veröffentlicht. „Der Riss in der Zeit“ heißt der detailreiche Versuch des in Berkeley lehrenden Historikers Stefan-Ludwig Hoffmann, „Kosellecks ungeschriebene Historik“ zu rekonstruieren. Schließlich erinnert der Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck an eine vergangene Universitätskultur, in welcher das bevorzugte soziale Medium der Sonderdruck war.

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Stärker noch als andere deutsche Gelehrte seiner Generation hat die Erfahrung des Krieges nicht nur die Biografie Kosellecks geprägt, sondern auch die Wahl seiner Forschungsgebiete und seine Arbeitsweise bestimmt. Seit 1965 sammelte er die Erinnerungen an Krieg und Gefangenschaft in einer schwarzen Ringmappe, die sich stets in Griffnähe auf seinem Schreibtisch befand. Mit 17 Jahren, schreibt Koselleck, meldete er sich als „überzeugter großdeutscher Freiheitskämpfer“ freiwillig zur Artillerie.

Neun Monate lang war Koselleck Soldat in Russland, zehn Monate verbrachte er nach einem Unfall im Lazarett. In den letzten Kriegswochen wurde er wieder an die Front befohlen und geriet am 1. Mai 1945 in Mähren in russische Gefangenschaft. In dem von der Roten Armee befreiten Auschwitz musste er die Überreste der IG Farben-Fabriken auf Güterzüge in die Sowjetunion verladen, bevor er in ein Arbeitslager im kasachischen Karaganda kam, in den Worten Solschenizyns „die größte Provinzhauptstadt des Archipel Gulag“. Von dort wurde er im Herbst 1946 wegen Arbeitsunfähigkeit entlassen.

Begegnung in Auschwitz

In Auschwitz war es zur heftigen Auseinandersetzung mit einem ehemaligen polnischen KZ-Häftling gekommen, der Koselleck drohte, ihm den Schädel einzuschlagen: „Ihr habt ja vergast Millionen.“ Koselleck versichert, er habe nichts von der Existenz der KZs gewusst, der Wutausbruch des KZ-Häftlings aber habe ihm schlagartig klargemacht: „Das kann ja nicht erfunden sein.“ Im Rückblick sprach Koselleck von einer „Primärerfahrung“, die nicht übertragbar war, Menschen konnten die gleichen Erfahrungen machen, die Erinnerungen daran blieben widersprüchlich.

Gegen die Konjunktur der Forschungen zum „kollektiven Gedächtnis“ beharrte der Historiker Koselleck auf dem „Vetorecht der je persönlichen Erfahrungen, das sich gegen jede Vereinnahmung in ein Erinnerungskollektiv sperrt“. Für die Unverrückbarkeit der individuellen Erinnerung fand Koselleck das Bild der „geronnenen Lavamasse, die sich einmal glühend und fließend in den Leib eingegossen hat, um unverschiebbar Schichten festzulegen, auf denen das ganze weitere Leben aufbaut oder sich darum herumstiehlt“.

Reinhart Koselleck Kritik und Krise Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt
Quelle: Suhrkamp Verlag

Professor in Heidelberg, Bochum und Bielefeld, hat Koselleck nur zwei Monografien geschrieben: 1953 die Dissertation „Kritik und Krise“, eine Zurückweisung der utopischen Geschichtsphilosophie, 1967 die Habilitationsschrift „Preußen zwischen Reform und Revolution“. Anders als Historikerkollegen wie Hans-Ulrich Wehler oder Thomas Nipperdey, die mit ihren mehrbändigen Werken das Etikett eines „opus magnum“ beanspruchten, blieb Koselleck zeitlebens ein Essayist. Ein Rückzug in intellektuelle Selbstbescheidung war damit nicht verbunden, oft elegant und suggestiv, stets jargonfrei und meinungsstark geschrieben, formen Kosellecks Aufsätze ein Mosaik, das Perspektivreichtum und Überraschungsfülle auszeichnen. Zwei Gruppen lassen sich dabei unterscheiden: Texte zum politischen Totenkult und zur Erinnerungspolitik auf der einen, Versuche zu einer Historik, einer Theorie der Geschichte, auf der anderen Seite.

Drei Wochen vor seinem Tod am 3. Februar 2006 bat Koselleck einen Kollegen um Fotografien von einem Kriegerdenkmal in dem kleinen brandenburgischen Pfarrdorf Lossow. Der Brief ist das letzte Dokument in Kosellecks Arbeiten zum politischen Totenkult, die 1979 mit der Charakteristik der „Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden“ einsetzten. Koselleck schuf sich hier ein eigenes Forschungsfeld, dessen Themenbreite und Originalität der Band „Geronnene Lava“ dokumentiert.

Reinhart Koselleck Geronnene Lava Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung
Quelle: Suhrkamp Verlag

Der sich über vier Jahrzehnte erstreckende Besuch von tausenden von Krieger- und Grabmalen wurde von Koselleck in einem „privaten Bildarchiv des gewaltsamen Todes“ festgehalten. Es war nur folgerichtig, dass er sich an den Denkmalkontroversen des wiedervereinigten Deutschlands beteiligte. Einzig angemessener Ort der Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen war für ihn die „Topographie des Terrors“ in Berlin. Zu heftiger Polemik dagegen provozierte ihn die „anthropophagische Plusterdame“ – die im Vergleich zum Original vierfach vergrößerte Pietà von Käthe Kollwitz, die Helmut Kohl in der Neuen Wache platziert hatte. Auch sah Koselleck voraus, dass die Errichtung des den ermordeten Juden gewidmeten Holocaust-Denkmals zur Forderung nach Mahnmalen für andere Opfergruppen führen musste.

Die Katastrophe von Krieg und Gefangenschaft erlebte Koselleck als einen „Riss in der Zeit“. Ein anderer Riss in der Zeit führte ihn zur Theorie der Geschichte, zum Versuch, „die der geschichtlichen Bewegung eigentümlichen Zeitstrukturen und die daraus ableitbaren Zeiterfahrungen zu thematisieren“. Koselleck faszinierte die von ihm sogenannte „Sattelzeit“, die um das Jahr 1750 einsetzt. In ihr markiert das Auseinanderfallen von Erfahrung und Erwartung den Beginn der Moderne: „Je geringer die Erfahrung, desto größer die Erwartung, dies ist eine Formel für die zeitlichen Strukturen der Moderne.“ Unterschiedliche Geschwindigkeiten prägen die Geschichte, sie ist „Kontinuität und Katastrophe, Hemmung und Beschleunigung“ zugleich, gerinnt dabei aber nie „zu festen Formen, alles ist Vollzug und Entzug in einem“. Koselleck war ein Feind jeder Geschichtsphilosophie, die Geschichte hatte für ihn weder Sinn noch Richtung. Dem Historiker blieb die Suche nach Formalkriterien historischen Handelns und Entscheidens, als Historik bezeichnete Koselleck „die Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten“.

„Wissen ist besser als Besserwissen“

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Fasziniert von der Sattelzeit war Koselleck maßgeblich am Gelingen eines Werkes beteiligt, das Stefan-Ludwig Hoffmann zu Recht „das eindrucksvollste wissenschaftliche Verbundprojekt der alten Bundesrepublik“ nennt. Es sind die monumentalen, neun Bände umfassenden „Geschichtlichen Grundbegriffe“, das „Historische Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“, das Koselleck zusammen mit Otto Brunner und Werner Conze konzipierte und schließlich als Herausgeber wie als Autor zum Abschluss brachte. Es hat seinen Ruf als „Säulenheiliger“ der Begriffsgeschichte begründet, die in ihren besten Beiträgen eine Brücke zwischen Sozial- und Ideengeschichte bildet.

Die Briefe und die Sonderdrucke, die Koselleck und Hans Blumenberg zwischen 1965 und 1994 miteinander wechselten, protokollieren das Werkstattgespräch zweier Gelehrter, von denen aber nur einer den anderen belehrte. Kosellecks Vortrag von 1970 „Wozu noch Historie?“ gab der strenge Blumenberg auf einer seiner berühmt-berüchtigten Karteikarten eine knappe „III“, Koselleck wiederum mag auch an Blumenberg gedacht haben, als er schrieb: „Wissen ist besser als Besserwissen“.

Hans Blumenberg, Reinhart Koselleck Briefwechsel 1965-1994 Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase und Rüdiger Zill
Quelle: Suhrkamp Verlag

Ob es sich nun um den Arbeitskreis für Sozialgeschichte, die Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ oder die neu gegründete Universität Bielefeld handelte – Koselleck zeichnete eine hohe Institutionen-Treue aus. Er schätzte das Teilnehmen, Blumenberg bevorzugte das Fernbleiben. Der „einsame Schreibtisch“ war für Blumenberg der angemessene Arbeitsplatz des Wissenschaftlers, die „fertile Brutwärme des Kollektivs“ dagegen, die auch Koselleck anzog, verspottete er als Symptom einer zweiten Jugendbewegung.

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Blumenberg war ein Meister darin, einzelne Forschungsergebnisse in großen Synthesen zusammenzufassen. Koselleck hat immer wieder Anläufe zu einer systematischen Zeittheorie genommen – und hat schließlich Fragen danach fast mürrisch zurückgewiesen. Die Behauptung, das Thema langweile ihn mittlerweile, war in Wahrheit ein unterdrückter Seufzer. Dass in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ ausgerechnet der Artikel „Zeit“ fehlt, hat eine familiäre Pointe: der Polyhistor Jean Henri Samuel Formey, ein hugenottischer Vorfahre Kosellecks mütterlicherseits, hat zur „Encyclopédie“ von d’Alembert und Diderot den Artikel „Temps“ beigesteuert.

Kosellecks Seufzer erinnert an den Satz, mit dem Marcel Proust die „Suche nach der verlorenen Zeit“ beendet: „Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstren glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermesslich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weit auseinander liegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT.“

Neuerscheinungen zu Reinhart Koselleck

Reinhart Koselleck: Geronnene Lava. Texte zu politischem Totenkult und Erinnerung. Herausgegeben von Manfred Hettling, Hubert Locher und Adriana Markantonatos. Suhrkamp, 572 Seiten, 38 Euro.

Stefan-Ludwig Hoffmann: Der Riss in der Zeit. Kosellecks ungeschriebene Historik. Suhrkamp, 392 Seiten, 24 Euro.

Hans Blumenberg/Reinhart Koselleck: Briefwechsel 1965-1994. Herausgegeben von Jan Eike Dunkhase und Rüdiger Zill. Suhrkamp, 181 Seiten, 32 Euro.

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