Eigentlich ist „Hannes“ ja ein geradezu beängstigend aktueller Film. Erzählt eine Geschichte über die Lücke, die einer hinterlässt, wenn er stirbt. Über die Trauer und wie sie für einen Überlebenden nicht das Ende, sondern der Anfang eines Wegs zu sich selbst sein kann.
Über die Sprachlosigkeit angesichts von einem, der zum Schweigen verdammt ist, weil er – im künstlichen Koma, angeschlossen an Schläuche, beatmet – einfach nicht antworten kann. Über eine Freundschaft von zwei unverwundbaren Jungs, die nicht endet, wenn der Freund, der Blutsbruder unter der Erde liegt.
Über die Schuld, die einer spürt allein dadurch, dass er überlebt hat. Ein Film, der sich zu nicht geringen Teilen auf einer Intensivstation abspielt.
Rita Falk hat die Geschichte geschrieben. Neun Jahre ist das her. Da waren gerade erst ein paar ihrer inzwischen elf kreuzlustigen bayerischen Eberhofer-Krimis („Griesnockerlaffäre“ etc.) erschienen, die sie inzwischen zur Auflagenmillionärin gemacht haben (und inzwischen Millionen – verfilmt von Ed Herzog mit Sebastian Bezzel als Eberhofer – auch in die Kinos brachten).
Trauer, Tod und intensivmedizinische Betreuung war damals mehr noch als heute Privatsache, sorgsam ausgeblendet aus dem Leben. Wollte man nichts von wissen, jedenfalls nichts von dem Sterben, Trauern der anderen. „Hannes“ war ein wichtiges Buch (und ist es eigentlich immer noch).
Dass man diesen (Brief-)Roman verfilmt, ließ sich – nach dem Erfolg der Eberhoferschen Weißwurscht-Streifen – wahrscheinlich nicht vermeiden. Dass man anschließend, wenn man Hans Steinbichlers Melodram überstanden hat, angstvoll und besorgt und nicht ganz trockenen Fußes das Kino verlässt, wahrscheinlich schon.
Die Geschichte ist die Folgende: Hannes und Moritz sind ziemlich beste Freunde. Seit der Säuglingsstation sind sie das. Der eine ist eine Stunde älter als der andere. Später lesen sie sich – Wink mit dem Zaunpfahl – unter der Bettdecke Lindgrens „Brüder Löwenherz“ vor.
Dann fahren sie Motorrad. Dann wollen sie gemeinsam nach Südamerika. Easy Rider der dritten Generation. Rasen, als 19-Jährige bremst einen nichts, Serpentinen rauf und runter. Die Berge sind schön. Steinbichler kann sie inszenieren, wie sonst wahrscheinlich niemand.
Hannes ist immer in Bewegung, ist das Leben in der Jungmännerfreundschaft. Moritz bleibt stehen, weiß nicht, wohin mit sich, lässt Dinge laufen, schleifen. Sein Motorrad zum Beispiel.
Als er einmal vorne fährt, Hannes mit der stotternden Mühle von Moritz hinterdrein, setzt Moritz‘ Motorrad aus, Hannes stürzt. Und liegt auf der Intensiv, im künstlichen Koma.
Das neue Leben von Moritz, das ohne Hannes, geht damit los, dass er das alte Leben von Hannes weiterführt, als Stellvertreter, weil der Hannes ja wieder zurückkommt.
Nun hat man ja selbst als Bewohner des meeresentfernten Voralpenraums spätestens durch Corona gelernt, dass Wellen potenziell tödlich sein können. Hans Steinbichlers „Hannes“ führt nun geradezu mustergültig vor, wie der Tod auch einen Film in Wellen erreichen kann. Und dass auch das beste Personal manchmal gegen sein vorzeitiges Versterben nicht hilft.
Man lacht und weint und lacht und weint
Steinbichlers Dramaturgie – seine Frau hatte ihm Falks Drama nahegelegt, nachdem sie selbst Rotz und Wasser geheult haben soll bei der Lektüre, Steinbichler verglich den Roman mit „Das Parfüm“ und „Blechtrommel“ – gleicht den Corona-Kurven der vergangenen Jahre, in gestauchter Form.
Das Trauer-und-Trost-Diagramm von „Hannes“ schlägt – damit man von der Tragik nicht erschlagen wird – gefühlt alle fünf Minuten aus. Achterbahn kann man das auch nennen. Man lacht und weint und lacht und weint.
Und es dauert nicht sehr lange (eigentlich dauert es gerade mal eine Viertelstunde), da merkt man die Absicht, da weiß man, was wird, was nicht so schlimm wäre, würde man nicht auch wissen, was Steinbichler den Rest der neunzig Minuten tun wird.
Orgelspielen nämlich. Mit unseren Gefühlen. Mit allem, was das melodramatische Kino so aufzubieten in der Lage ist.
Die Berge als Ewigkeitssymbol hatten wir ja schon, das Meer, der See, die Wellen kommen dazu. Steinbichler lässt die Drohnen los über die Landschaften.
Und eine Musik über alles, die selbst den Herzlosesten nach dem nächstgelegenen Taschentuch grabbeln lässt und immer genau das doppelt, überhöht, überdreht, was man ohnehin gerade sieht und an Dialogen hört.
Die Dialoge wiederum sind auch von einer ausgesuchten Berechenbarkeit. Würde man die Weisheiten von „Hannes“ in Kreuzstich einrahmen, müsste man für all die Sprüche eine neue Wand einziehen in der heimischen Psychoküche.
Dass es Moritz, der Hannes als Zivi im (Wink mit dem Zaunpfahl) „Vogelnest“, einem Wohnheim für psychisch Kranke, ersetzt, im Heim mit einer Chefin zu tun bekommt, die in Pumps und Ledermini Visite macht und Moritz natürlich zum Mann macht, bestärkt den Volksverdacht, dass Psychiater meistens selbst einen brauchen. Warum sich Verena Altenberger in die Lederkluft der notgeilen Dr. Redlich (Wink mit Zaunpfahl) begeben hat, wird ein Welträtsel bleiben.
„Der Bergdoktor“ ist realistischer
Man kommt nicht drauf. Genauso wenig wie darauf, dass Moritz sich mit Schuhen und ohne keimfreien Anzug zum komatösen Hannes ins Klinikbett legt. Man muss in den vergangenen Monaten nicht viele Nachrichtensendungen gesehen zu haben, um zu wissen, dass es auf Intensivstationen anders zugeht als in Heiner (nicht Karl!) Lauterbachs Kinoklinik. Der „Bergdoktor“ ist „Hannes“ da an Realismus deutlich voraus.
Es gibt eigentlich nur etwas, was man tatsächlich bedauert. Dass man Hannelore Elsner – sie sitzt als manisch Trauernde ein in Dr. Redlichs „Vogelnest“ – doch so selten sieht, und dass auch sie nur ein Register spielt auf Hans Steinbichlers Gefühlsdrehorgel, von der man ziemlich rasch weiß, welche Melodie sie am Ende spielt. Allerdings ist sie die schönste.
Ein gebrochenes Wesen, eingesperrt im eigenen Schuldturm. Eine Frau, die einen dann doch zu Tränen rührt. Weil, wie Hannelore Elsner macht, geradezu absichtslos geschieht, so absichtslos, wie sonst nichts in diesem Film. Weil wahr ist, was man da sieht. „Hannes“ ist Hannelore Elsners letzter Kinofilm. Und das ist wirklich traurig.