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Das große Geheimnis – Besuch bei Hans Keilson

Leitender Feuilletonredakteur
Hans Keilson Hans Keilson
Quelle: deVries/HollandseHoogte/AG.Focus
Hans Keilson debütierte als Schriftsteller 1933. 1936 zwang ihn die Judenverfolgung der Nazis ins Exil. Seither lebt er in den Niederlanden, wo sein wissenschaftliches und berufliches Lebenswerk als Arzt, Analytiker und Dichter entstand. Dieses Jahr erhält er den WELT-Literaturpreis.

Der Hausherr öffnet selbst. Hans Keilson, der seinen Stock so gewandt handhabt, wie er auch die steilen Treppen seines holländischen Hauses nimmt, Hans Keilson ist ein Wunder an Gesundheit und Geistesgegenwärtigkeit. Seit er 90 ist, nimmt der zierliche Mann mit dem wachen, munteren Gesichtsausdruck keine neuen Patienten mehr an. Aber die alten, die empfängt er noch, im zweiten Stock, wo er nun schon seit einem halben Jahrhundert praktiziert. Hans Keilson schreibt auch noch.

Jetzt eben arbeitet er am Vorwort zu einer Festschrift für Bad Freienwalde bei Berlin, wo er 1909 geboren wurde. Hans Keilson reist noch. Trägt noch vor – gerade in den letzten Jahren mehren sich die Auftritte bei Tagungen, Kongressen, Symposien, Gastprofessuren. Den Zeugen des Jahrhunderts lädt man gerne ein, denn er hat es alles abrufbar gespeichert, was ihm in den fast 99 Jahren seines bisherigen Daseins widerfahren ist. Trotzdem muss kein Mensch in Ehrfurcht vor ihm erstarren.

Jawohl, er ist ein Verfolgter des Nazi-Regimes. Jawohl, er wurde ins Exil gezwungen – und später, als die Deutschen in Holland einmarschierten, sogar in den Untergrund, wo er als Kurier und Arzt im Widerstand aktiv war. Und ja – auch das: Seine Eltern, die 1938 noch legal aus Deutschland entkommen konnten, wurden am Ende des Krieges nach Auschwitz deportiert, wo man sie ermordet hat. Kein Zweifel, es gibt das ganze große Ausmaß des Schreckens in diesem Leben, wie es das 20.?Jahrhundert über so unfassbar viele Menschen gebracht hat.

Es gibt, andererseits, auch den ungeheuren Erfolg des Wissenschaftlers Keilson. Mit seinem Standardwerk über Kriegswaisen, die den Holocaust überlebten, hat er, auf empirischer Basis, ein neues Paradigma in die Behandlung von seelisch Kranken eingeführt und damit Weltgeltung erlangt: das Paradigma von der „sequentiellen Traumatisierung“ nämlich; der Traumatisierung, die immer wiederkehrt. Damit nicht genug. Es gibt da auch das gewichtige literarische Werk dieses Mannes. Drei stattliche, ungewöhnlich intensive Romane, viele unglaublich anrührende Gedichte sind da, dazu zahlreiche kluge Essays, für die er 2005 den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung erhielt. Seit drei Jahren liegen diese Arbeiten endlich in einer schönen Werkausgabe bei S. Fischer vor.

Es gibt also all dies Bewundernswürdige, Staunenswerte, Bewegende. Und doch schüchtern einen Leben und Leistung des Hans Keilson nicht ein. Gut gelaunt führt dieser Mann in seinem Haus herum, bisweilen selbst erstaunt, was da alles zu sehen gibt. Geradezu kindlich kann er sich freuen, wenn er bei diesem oder jenem Möbelstück den Hinweis gibt, es stamme noch aus seinem Elternhaus.

Er plaudert ganz zwanglos bei einem Tee mit dir, seine Frau, die Literaturwissenschaftlerin und George-Spezialistin Marita Keilson-Lauritz leichthändig und liebevoll ins Gespräch mit einbeziehend. Und auch das tut er, was die Berühmten sonst so selten tun: Er befragt dich! Es interessiert ihn auch, wie sein Gesprächspartner zu dieser Frage, jenem Menschen steht. Und wenn man das zum Thema macht, und wenn man sagt, wie man sich wundert, dass jemand bei einer solchen Vita und in diesem methusalemischen Alter noch so aufgeschlossen für die Umwelt ist, dann kann Hans Keilson, fast kokett, fast schelmisch, kontern: „Wer neugierig ist auf jeden Tag, auf jeden Menschen, der ist psychisch gesund.“

Hugo von Hofmannsthal hat einmal gesagt, das große Geheimnis, wie es einem jeden Menschen möglich war, gerade so zu leben, wie er lebte, werden Außenstehende nie lösen. Auch das große Geheimnis, wie es Hans Keilson möglich war, sich nach allen Erfahrungen, die er machen musste, so kommunikativ und produktiv zu erhalten, wird wohl niemals entschleiert werden. Und er selbst hat, trotz seines analytischen Scharfsinns, Ehrfurcht genug vor dem Numinosen, um dieses Geheimnis ruhig für sich bestehen zu lassen.

Aber eines macht er doch ganz klar und kommt in unserem Gespräch mehrmals darauf zurück: „Hass kann niemals die Lösung sein. Hass baut nicht auf. Mit Hass hätte ich mein Fach nicht ausüben können und auch nicht so lange gelebt. Was mich erfüllt, wenn ich an Deutschland denke, wenn ich es besuchsweise wieder betrete, ist nicht Hass. Trauer, das ja. Trauer um diejenigen, die unter diesem Land so unbeschreiblich gelitten haben. Trauer aber auch um Deutschland, das mit den Juden ja auch sich selbst umgebracht hat und auch sonst sehr viel verlor. Als mein Vater 1943 von mir Abschied nahm, und wir ahnten ja, dass dies ein Abschied für immer sein würde, sagte er zu mir: Vergiss niemals, dass du Arzt bist.’ Daran habe ich mich gehalten. Der Arzt will und muss helfen, konstruktiv wirken. Er darf bei der Diagnose nicht stehen bleiben. Was er anstrebt, ist immer die Therapie.“

Hans Keilson ist auch als Autor ein Arzt und Analytiker, so sehr, dass er sofort seine anderen Identitäten ins Spiel bringt, wenn von ihm als Schriftsteller die Rede ist. „Wissen Sie, als ich 1933 als letzter jüdischer Debütant im alten S. Fischer Verlag meinen ersten Roman ,Das Leben geht weiter’ herausbrachte, als ich zum letzten großen Schriftsteller-Empfang bei Sami Fischer in die Erdener Straße eingeladen wurde, wohin mich mein Lektor Oskar Loerke mitnahm, als ich da also stand zwischen Alfred Döblin und Leonhard Frank, da dachte ich bei mir: ,Hier gehörst du eigentlich nicht hin.’ Ich war ja Jazzmusiker, fand ich damals! Das Medizinstudium, die Preußische Hochschule für Leibesübungen in Spandau, wo ich eine Zusatzausbildung machte, was mir dann beim Überleben in Deutschland bis 1936 sehr zustatten kam, schließlich mein Spiel in der Jazzband, als Geiger, als Trompeter, ,Day and Night’, ,Tiger Rag’, das war damals meine Welt – und die Losung, mit der wir auf all die Tanz-Tees, Lunchkonzerte und Vereinsfeiern zogen: ,Hauptsache, die Kapelle amüsiert sich’.“

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Wie so viele Menschen sah auch Hans Keilson zunächst nicht ab, dass diese seine Welt mit dem 30.?Januar 1933 eine andere geworden war. „Wir waren doch integriert in Deutschland, wir waren keine Fremdkörper. Selbstverständlich habe ich in Bad Freienwalde im protestantischen Kirchenchor mitgesungen. Wir waren aufgeklärte, liberale Juden, meine Schwester durfte als erstes Mädchen in unserer kleinen Stadt das Jungengymnasium besuchen. Ich liebte Berlin, aber genauso fühlte ich mich im Riesengebirge zu Hause. Meine Mutter stammte aus Hirschberg. Und jahrein, jahraus ging’s im Sommer auf die Schneekoppe. Krummhübel, Schreiberhau, Gerhart Hauptmanns Agnetendorf – das sehe ich noch genau vor mir – und hier“, er legt mir das Familienalbum vor, „können auch Sie das sehen, der Sie dieses Deutschland ja gar nicht mehr kennengelernt haben.“

Bei der Betrachtung eben dieses Fotoalbums fällt auf, wie wenig der Übergang von Deutschland nach Holland als Zäsur erscheint. „Natürlich war das anfangs eine wacklige Sache, aber ich lebte mich hier doch recht schnell ein“, bestätigt Hans Keilson die Beobachtung. „Meine erste Frau war vorausgegangen, sie machte Quartier. Wieder verhalf mir das Musizieren zu Kontakten. Schon Ende der Dreißiger veröffentlichte die Zeitschrift ,De Gemeenschap’ meine ersten Gedichte. Die Holländer sind ein gastfreies Volk – ,und sie nennen mich mijnheer’, habe ich in einem meiner Gedichte geschrieben. Respekt, Achtung, Verständnis waren da von Anfang an. Als wir nach der Befreiung unseren ersten Spaziergang zu dritt unternahmen – ich hatte während der Besatzungszeit getrennt von meiner nichtjüdischen Frau und unserer Tochter gelebt, die wir als Kind eines deutschen Offiziers ausgegeben hatten – da verwunderte sich kein Mensch. Sie hatten alle die ganze Zeit über Bescheid gewusst, aber keiner hatte etwas verraten.“

Über diese hochmerkwürdige Zeit in der Illegalität mit ihrem Zwang zum Verheimlichen hat Hans Keilson 1947 sein zweites Prosawerk geschrieben. Es trägt den poetischen Titel „Komödie in Moll“. Und tatsächlich versteht es der Autor hier, der riskanten Konstellation auch ihre komischen Seiten abzugewinnen und sie darzustellen: Wim und Marie verstecken den Juden Nico bei sich. Der stirbt bei ihnen – an einer Erkältung! Das Ehepaar schafft ihn nachts heimlich aus dem Haus, vergisst aber, aus dem Schlafanzug die Wäschemarke zu entfernen. Nun müssen die Beschützer selber Schutz suchen – „wie schnell aus einem Sesshaften ein Vertriebener werden kann“, lautet der Kommentar des Erzählers, der hier geschickt mit dem Kontrast zwischen dramatischem Zeitkontext und einer intimen Häuslichkeit jongliert.

Das Werk wurde jedoch im Nachkriegsdeutschland kaum beachtet. Vom Literaturbetrieb der Fünfziger-, Sechzigerjahre hatte Keilson nicht viel zu erwarten. Die Gruppe 47 mit ihren Ressentiments gegen die literarischen Emigranten ging auch an dem weiterhin in Holland Lebenden achtlos vorüber. Die herzlichste Freundschaft verband ihn seinerzeit mit Rudolf Hagelstange, der gleichfalls eher am Rande des literarischen Lebens in der Bundesrepublik stand. Doch in den Achtzigerjahren begann sich das Blatt zu wenden.

Keilson, der nun auch zum Vorsitzenden des PEN-Clubs deutschsprachiger Autoren im Ausland gewählt wurde, konnte im Fischer-Taschenbuch erneut gelesen werden. So bekam sein Debüt, das 1934 verboten worden, endlich die Aufmerksamkeit, die es verdiente. „Das Leben geht weiter“ ist die vor allem psychologisch eindrucksvolle Erzählung einer Jugend der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die auch das mittlere Bürgertum verarmen ließ, was der junge Autor an seinem eigenen Vater erleben musste, den er als beklagenswert hilflosen Menschen schildert, der über dem wirtschaftlichen Niedergang auf herzzerreißende Weise seine Selbstachtung verliert. Hier liegt ein frühes Dokument von Hans Keilsons Fähigkeit zur Empathie vor, an dem man den späteren Arzt und Therapeuten schon sehr gut erkennen kann.

Keilsons literarisches Hauptwerk ist jedoch zweifellos sein großartiger Roman „Der Tod des Widersachers“, erstmals erschienen 1959. Nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit dem Komplex des Judenhasses legt Keilson hier unter Einarbeitung vieler eigener Erlebnisse im Deutschland der Dreißigerjahre seine psychoanalytische Sicht der Dinge in einer Art Experimentalroman vor. Er lässt sich, kurz gefasst, auf die Formel bringen: der Judenhass der NS-Zeit war ein Selbsthass.

In diesem Werk kulminiert jene Fähigkeit, die Hans Keilson auch in seinen Gedichten und Essays an den Tag legt, die Fähigkeit nämlich, bis in die subtilsten seelischen Verästelungen hinein zu analysieren und darzustellen, wie im 20.?Jahrhundert jene Impulse wirksam wurden, die man die destruktiven genannt hat. Das zerstörerische Prinzip musste der Arzt und Therapeut kennen, um es überwinden zu können. Das zerstörerische Prinzip hat er aus ökonomischer, sozialer und psychoanalytischer Sicht eingekreist in seinen dichterischen Arbeiten. Sie stoßen dadurch wie nur wenige literarische Zeugnisse vor zum Kern dessen, was das vergangene Jahrhundert prägte. Dafür und auch für die Tatsache, dass Keilson über dieser Analyse- und Trauerarbeit den Glauben an die Heilbarkeit des einzelnen nicht verloren hat, erhält er für sein literarisches Gesamtwerk den WELT-Literaturpreis 2008.

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