Sie hängen über Wäscheleinen zwischen dünnen, hohen Holzstäben. Flattern und flackern purpurrot, gold, silber- und smaragdfarben im böigen Abendwind. Kostbare Textilien, doch der italienische Künstler Adriano Cisani hat sie im Hof der weltberühmten venezianischen Manufaktur Fortuny auf der Insel Giudecca so entspannt drapiert wie zum Trocknen aufgehängte Socken. Seine Installation „From Giudecca with Love“ beschreibt er als „glühende Liebeserklärung“ an die legendäre Marke exquisiter Stoffe, plissierter Roben, Seiden- und Glasleuchten, Quasten und anderer Luxusaccessoires bis hin zum Parfüm.
Mit seiner in Zusammenarbeit mit Cisani entworfenen jüngsten Stoffkollektion namens Teatro, die in diesem Jahr auf den Markt kommt, feierte das Unternehmen den 100. Geburtstag der Manufaktur auf Giudecca – und das weitläufige Fabrikareal mit den lang gestreckten Arbeitshallen und Verwaltungsgebäuden, einem Swimmingpool im großen Park, hundertjährigen Bäumen, einem kontemplativen Innenhof mit Brunnen und einer von Rosen überwachsenen Pergola wird zur Bühne, erdacht von einem Universalgenie.
Denn ein solches war der 1871 im spanischen Granada geborene Mariano Fortuny y Madrazo, der 1949 in seiner Wahlheimat Venedig starb. Von Zeitgenossen als „Magier von Venedig“ bestaunt, machte er eine Weltkarriere: als Stoff- und Modedesigner, Konstrukteur und Erfinder mit über 50 Patenten, als Bühnenbildner, der Wagner-Opern ausstattete und die Fortuny-Kuppel – eine muschelförmige faltbare Bühnenleinwand – entwickelte. Außerdem war er Innenarchitekt, Bildhauer und Maler. Dabei half ihm eine seltene Doppelbegabung: Als analytischer Forscher beschäftigte er sich mit Technologie und Wissenschaft, als kosmopolitischer Ästhet studierte er antike, asiatische und orientalische Kulturen und interpretierte sie mithilfe experimentell angewandter Techniken neu.
1889 war die Mutter (der Vater, ein berühmter Maler, war gestorben, als Mariano drei Jahre alt war) mit ihm und seiner Schwester nach Venedig gezogen. Die Lagunenstadt wurde sein Schicksal und seine nie versiegende Inspirationsquelle. 1898, ein Jahr nachdem er seine spätere Frau, Geschäftspartnerin und Muse, die Pariserin Henriette Negrin, kennengelernt hatte, kaufte Mariano Fortuny ein Atelier im damals weitgehend verfallenen Palazzo Pesaro degli Orfei. Nach und nach erwarb er den gesamten in gotisierendem Stil gebauten Palazzo und verwandelte ihn in den Folgejahren zu seinem Ideallaboratorium, in dem er mit seiner Gattin Henriette lebte und arbeitete. Heute ist das Gebäude als Palazzo Fortuny bekannt und beherbergt das gleichnamige Museum, das im vergangenen Frühjahr nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten wiedereröffnet wurde.
Bereits 1907 hatte Fortuny zusammen mit seiner Frau die gemeinsame Firma gegründet – mit einer aufsehenerregenden Erfindung, die sie sich patentieren ließen und mit der ihr kometenhafter Aufstieg in die mondäne Gesellschaft begann: dem Seidenplissee, und zwar in Gestalt des Kleides Delphos, dessen Look von der altgriechischen Bronzestatue des Wagenlenkers von Delphi inspiriert war. Für die Plissierung erfand Fortuny eine Maschine, mit der man nasse Seide so falten konnte, dass sich ihre Fasern nach der Pressung dauerhaft neu ordneten und ähnlich wie Prismen Licht und Schatten reflektierten. In einer handschriftlichen Anmerkung zum Patent bescheinigte Mariano Fortuny seiner Gattin, die Idee für die Fältelungen gehabt zu haben.
Der Effekt war sensationell. Statt der bis dahin üblichen steifen Korsette und Korsagen umschmiegten die Plissees mit ihren schillernden vertikalen Wellen den weiblichen Körper und betonten seine Formen und Bewegungen in Juwelenfarben von Korall bis Veroneser Grün und Apricot bis Ultramarin. Ihre einzigartige Leuchtkraft verdankten sie erneut Henriette Fortuny, die Farben nach antiken Rezepturen unter anderem aus den Extrakten von Pflanzen und aus Insekten herstellte.
Aufgrund der stetig steigenden Nachfrage nach seinen Produkten kaufte Fortuny 1919 das Gelände eines ehemaliges Klosters auf der Insel Giudecca und ließ eine neue Produktionsstätte inklusive Stoffdruckerei und Färberei, Schneiderei, Tischlerei, Mal- und Fotoateliers bauen, die 1922 eröffnete. Auch heute noch arbeiten die 25 Designer und Handwerker hinter den roten Ziegelmauern mit den hohen Fenstern an den originalen Druckmaschinen und hüten die Geheimnisse der Herstellungsverfahren. Besucher haben keinen Zutritt. „So bleibt Fortuny unkopierbar“, sagt Mickey Riad, der künstlerische Direktor, „und damit ungleich wertvoller.“
Riad hat das Unternehmen zusammen mit seinem Bruder Maury vom Vater geerbt; Maged Riad hatte Fortuny in den späten 1980ern von der Interiordesignerin Elsie Lee Gozzi übernommen, deren Vertrauter er war. Lee Gozzi wiederum hatte die Firma nach Fortunys Tod über 40 Jahre lang geleitet. Seit 2003 führen die zwei Riad-Brüder sie gemeinsam. Den Gründer des Labels schildert Mickey Riad als einen der „radikalsten Erneuerer“ seiner Zeit. Mariano Fortunys Fähigkeit, kulturelles Erbe und traditionelle Naturverfahren unter Einsatz neuer Technologien zu bewahren und zu würdigen, hält Riad „für das eigentliche, zeitlos aktuelle Vermächtnis“ des Universalkünstlers.
So erfand Fortuny „eine mittelalterliche Blockdruckmethode neu, um handbemalte Stoffe raffinierter als mit den damals aktuellen mechanischen Systemen zu bedrucken“, erzählt Mickey Riad im neuen, von Kreativdirektor Alberto Torsello gestalteten Showroom der Fabrik. Außerdem experimentierte er mit Techniken, die Baumwolle aussehen ließen wie Seide, er baute eine Stehleuchte mit indirektem Licht für die Bühne und sogar einen Propeller für Motorboote.
Fortunys manische Kreativität, seine multikulturelle und kunsthistorische Bildung und die eklektische Intelligenz, mit der er seine ästhetischen Quellen zum Signature Style mixte, offenbaren sich in der Schatzkammer des Museums Fortuny. Der Künstler kopierte hemmungslos, was ihn begeisterte, seien es Gemälde im Stil der Alten Meister oder antike Plastiken oder Möbel aller Epochen von Gotik bis Barock und kombinierte sie mit seinen Stoffen, Leuchten, Plisseeroben, Modulen, Werkzeugen, Bühnenskizzen und einem herrlich kitschig gemalten Trompe-l’œil-Paradiesgarten zu einem schwelgerischen Gesamtkunstwerk. Kongenial neu inszeniert wurde Fortunys Maximalismus von dem bekannten italienischen Opernregisseur, Bühnenbildner und Architekten Pier Luigi Pizzi.
Im Showroom, in dem die Textilien an einer komfortablen Rollkonstruktion hängen, führt Mickey Riad neben einigen klassisch floralen, vegetabilischen Ornamenten auch jüngere Motive vor. „Sehen Sie zum Beispiel hier dieses Camouflagemuster oder hier“: Er streichelt über einen Stoff, der mit metallisch schimmernden, sich pulsierend wiederholenden Wellenlinien auf kupfernem und azurblauem Grund ornamentiert ist. „Beide Stoffe spiegeln die unerschöpfliche Magie Venedigs wider, ihre Lichtchoreografien, die Farbenspiele von Wasser und Himmel. Wir sagen immer: Wenn man einen Stoff von Fortuny kauft, erwirbt man ein Quantum venezianischer Zeit.“
Wie sieht Riad die Zukunft von Fortuny? Er antwortet beinahe enthusiastisch: „Wir werden diese einzigartige Marke wie bisher hegen und pflegen und gleichzeitig durch neue Designimpulse weiterentwickeln.“ Die Formel im Sinne des Gründers laute, Tradition und Innovation miteinander zu verschmelzen. Denn, Riad ist sich sicher: „Qualität, die überdauert, ist die effektivste Form von Nachhaltigkeit.“