Es ist doch nur eine Gabel, die jemand ungeschickt über den Teller streift, sollte man meinen. Und doch kann so ein schrilles Geräusch starke Reaktionen auslösen. Ebenso unangenehm wirkt, wenn eine Mücke ganz in Ohrnähe surrt, jemand ein Getränk schlürft, beim Autofahren irgendwas im Kofferraum klappert oder eine Tür laut knarrt. Man ist genervt, gestresst, wird vielleicht sogar wütend, findet einfach nur unangenehm, was gerade zu hören ist. Aber warum?
Dass Menschen sich an bestimmten Alltagsgeräuschen stören und womöglich heftig darauf reagieren, das kann unterschiedliche Gründe haben. Manchmal ist es schlichtweg die Tonhöhe. Hohe Töne nimmt das menschliche Ohr lauter wahr als tiefe, wie Eberhard Schmidt von der Bundesinnung der Hörakustiker (Biha) erklärt: „Dadurch werden schrille und quietschende Geräusche in einem hohen Frequenzbereich häufig als unangenehm empfunden.“ Also zum Beispiel, wenn die Gabel über den Teller kratzt.
Jeder Mensch hat ein individuelles Geräuschempfinden. Dabei prägen auch unsere Erfahrungen, wie wir Geräusche wahrnehmen. „Dass ein Geräusch für jemanden schwer zu ertragen ist, kann zum Beispiel daran liegen, dass es an ein unangenehmes Erlebnis erinnert“, erklärt Schmidt. Da reicht es vielleicht schon, dass der Nachbar die Bohrmaschine an die Wand ansetzt – zack, hat man die letzte Wurzelbehandlung beim Zahnarzt im Kopf.
Übrigens: Wer einen Tinnitus – also Ohrgeräusche – hat, ist nicht selten auch von einer Überempfindlichkeit gegenüber alltäglichen Geräuschen betroffen. Hyperakusis heißt dieses Phänomen, das körperliche Reaktionen auslösen kann wie Schweißausbrüche oder Herzrasen.
Dabei spielt offenbar weniger die Art eines Geräusches die entscheidende Rolle, sondern dessen Lautstärke. Betroffene empfinden schon Lautstärken als sehr unangenehm, die für andere weit unterhalb der Schmerzgrenze liegen. Vollständig geklärt sind die Ursachen bisher nicht.
Ein „Hass“ auf Geräusche
Und dann gibt es noch die sogenannte Misophonie. In solchen Fällen sind es meist bestimmte Geräusche, oft Essens-, Trink-, oder Atemgeräusche, die bei Betroffenen ganz individuell heftige negative Emotionen und reflexartige Reaktionen auslösen. Das können dann enorme Anspannung, Ekel, Ärger oder Wut sein, heißt es auf der Website der Universität Bielefeld, wo zu diesem Phänomen geforscht wird. Als sich 2014 erstmals eine betroffene Person an die dortige Psychotherapie-Ambulanz gewendet hatte mit dem Wunsch nach psychotherapeutischer Hilfe, nahm man das zum Anlass, sich näher damit zu beschäftigen, mithilfe spezifischer Fragebögen etwa.
Ein britisches Forscherteam testete einmal Erwachsene mit Misophonie im Vergleich zu einer Gruppe ohne diese Empfindsamkeit. Für diese Studie mussten die Probanden bewerten, wie unangenehm sie verschiedene Geräusche empfinden, darunter übliche „Auslöser“ (Essen und Atmen), generell störende Geräusche (etwa Geschrei) und neutrale wie Regen.
Beide Gruppen empfanden die störenden oder neutralen Beispiele ähnlich, während Essensgeräusche nur für die misophonen Menschen sehr unangenehm waren. Und wie sich mithilfe von Hirnscans zeigen ließ, waren bei ihnen Teile des Gehirns hochaktiv, die unter anderem eine Rolle für das Langzeitgedächtnis, der Reizverarbeitung und Emotionen wie Wut sowie Angst spielen.
Eine anerkannte Erkrankung ist die Misophonie bislang nicht, dennoch kann sie das Leben von Betroffenen – laut Studien sind das zwischen fünf bis 20 Prozent in bestimmten Bevölkerungsgruppen – stark beeinträchtigen. Auch wurde schon aggressives Verhalten beobachtet, manche schämen sich. Aber viele versuchen, bestimmte Alltagssituationen zu umgehen, das gemeinsame Essen mit Kollegen und Freunden zum Beispiel, oder Familientreffen. Offenbar triggern Störgeräusche nicht in jedem Fall, manchmal sind die Reaktionen auch an bestimmte Personen gebunden. Um zu vermeiden, mit unliebsamen Ess-, Mund- oder „Nasengeräuschen“ konfrontiert zu werden, ziehen sich viele Betroffene immer mehr zurück.
Aus einem „Hass auf Geräusche“ können soziale Ängste, gar Depressionen entstehen oder verstärkt werden. In den USA hat es sich die „Misophonia Association“ deshalb zum Ziel gemacht, einerseits eine Definition für das Leiden zu finden und das Bewusstsein dafür zu stärken. Andererseits will man Betroffene unterstützen bei der Suche nach hilfreichen und effektiven Behandlungsmethoden. Verstanden sind die Mechanismen noch nicht; in der Regel wird Misophonie als eine Störung der Klangverarbeitung betrachtet, wobei der soziale Charakter jedoch unberücksichtigt bleibt.
Wer den Verdacht hat, auf Alltagsgeräusche übermäßig stark zu reagieren, kann in einem ersten Schritt abklären lassen, wie gut das eigene Gehör funktioniert. Einen Hörtest kann man von HNO-Ärztinnen und -Ärzten, aber auch Hörakustikern vornehmen lassen.
Wer hingegen den Verdacht hat, von Misophonie betroffen zu sein, für den könnte es sinnvoll sein, sich psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Und man kann sich via Email an die Wissenschaftler der Universität Bielefeld wenden, um eventuell an Forschungsprojekten mitzuwirken.