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Zweiter Weltkrieg Stalingrad 1942

„Die Stellen, wo die Russen über uns waren, ließ ich sprengen“

Die Schlacht um die Stadt an der Wolga ist von Mythen überwuchert – deutschen und einst sowjetischen, heute russischen. Dazu gehört der Kampf um das Pawlow-Haus. Iain MacGregor hat für sein Buch „Der Leuchtturm von Stalingrad“ nachgeforscht.
Leitender Redakteur Geschichte
Die Schlacht um Stalingrad 1942/43

Der zweite Blitzfeldzug, mit dem Hitler die Sowjetunion erobern wollte, endete in der Schlacht um Stalingrad. Fast 250.000 deutsche und verbündete Soldaten wurden von der Roten Armee eingekesselt.

Quelle: WELT/Christoph Hipp

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Warum gerade dieses Haus? Vielleicht weil es am Rand des Platzes des 9. Januars stand, der im Volksmund meist „Leninplatz“ genannt wurde. Vielleicht, weil dort von 1934 bis 1942 Parteifunktionäre und andere Privilegierte der örtlichen Sowjetmacht wohnten. Vielleicht aber auch ohne jeden Grund außer dem, dass es überhaupt noch stand.

Jedenfalls wurde das Haus im nordöstlichen Teil des Stalingrader Zentrums zum Symbol des Kampfes der Roten Armee gegen die Wehrmacht. 24 sowjetische Soldaten verteidigten den vierstöckigen Wohnblock demnach 58 Tage lang; von ihnen waren ethnisch gesehen zehn Russen, sieben Ukrainer, die übrigen sieben gehörten anderen Völkern der UdSSR an. Doch das wird in Putins Russland nicht mehr erwähnt.

Das „Pawlow-Haus“, aufgenommen 1943 kurz nach Ende der Kämpfe. Es gilt für Russen bis heute als Symbol der Schlacht um Stalingrad
Das „Pawlow-Haus“, aufgenommen 1943 kurz nach Ende der Kämpfe. Es gilt für Russen bis heute als Symbol der Schlacht um Stalingrad
Quelle: Wikimedia / Public Domain

In der sowjetischen und heute russischen Darstellung heißt der Bau in Penenskaja-Straße 61 nach Feldwebel Jakow Pawlow schlicht „Pawlow-Haus“ und ist einer der wichtigsten Erinnerungsorte an die Schlacht 1942/43. Doch im Ausland ist der Bau weniger bekannt – in Jochen Hellbecks Buch „Die Stalingrad-Protokolle“ (2012) kommt es gerade auf drei Seiten vor, in Anthony Beevors Bestseller „Stalingrad“ (1999) auf einer, im 13-bändigen Reihenwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes gar nicht.

Nun aber steht der im heutigen Wolgograd geradezu legendäre Kampf um den Wohnblock im Mittelpunkt des Buches „Der Leuchtturm von Stalingrad“, in dem der britische Historiker und Sachbuchautor Iain MacGregor zum 80. Jahrestag die Schlacht nachzeichnet (Europa-Verlag, München. 464 S., 36 Euro, im Handel ab dem 29. September).

Stalingrad an der Wolga war ein wesentliches Ziel der deutschen Sommeroffensive 1942, des „Falls Blau“. Ursprünglich am 5. April hatte Adolf Hitler befohlen: „Auf jeden Fall muss versucht werden, Stalingrad selbst zu erreichen oder es zumindest so unter die Wirkung unserer schweren Waffen zu bringen, dass es als weiteres Rüstungs- und Verkehrszentrum ausfällt.“

Doch dreieinhalb Monate später, am 23. Juli, veränderte sich dieser Auftrag entscheidend: Nun sollte die Heeresgruppe B mit der 6. Armee unter General Friedrich Paulus „im Vorstoß gegen Stalingrad die dort im Aufbau befindliche feindliche Kräftegruppe“ zerschlagen, die Stadt besetzen und „die Landbrücke zwischen Don und Wolga sowie den Strom selbst“ sperren. Erobern also – das war eine völlig andere Aufgabe.

Obwohl die Kräfte der 6. Armee dafür absehbar nicht ausreichten, verlief die Offensive zunächst erfolgreich: Am 13. September begann der deutsche Großangriff auf das Stadtzentrum, neun Tage später verlief die Front auf dem westlichen Hochufer der Wolga. MacGregor schildert diese Vorgeschichte, indem er ganz dicht bei einigen ausgewählten Personen bleibt. Das macht den Reiz seines Buches aus: Es ist die Perspektive der unmittelbaren Anschauung, von Kämpfern und ihren Offizieren selbst. Erstaunlich ist, welche Vielfalt von direkten und indirekten, bislang kaum beachteten Zeugnissen er sammeln konnte.

Quelle: Infografik WELT

Auf deutscher Seite gehören dazu der Oberstleutnant Friedrich Roske, dessen Sohn MacGregor private Unterlagen überließ, sowie der Unteroffizier Albert Wittenberg, dessen Tagebuch der Autor auswerten konnte. Für die ehemals sowjetische Seite konnte MacGregor mit Nachfahren unter anderen von Jakow Pawlow und General Wassili Tschuikow sprechen, außerdem die umfangreichen Bestände im Archiv des Panorama-Museums in Wolgograd einsehen, das vis-à-vis vom „Pawlow-Haus“ steht und die heroische Deutung der Schlacht dokumentiert.

Mit diesen Quellen gelingt MacGregor eine dichte Nacherzählung. In der deutschen Wahrnehmung von Stalingrad-Schilderungen dominieren meist die Kämpfe im Traktorenwerk weit nördlich der Innenstadt oder am Univermag-Kaufhaus, zuletzt dem Gefechtsstand von Paulus. Aus sowjetischer und seit 1991 russischer Sicht war und ist das „Pawlow-Haus“ bedeutsamer.

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Am 24. September 1942 begann Jakow Pawlow, laut seinen Vorgesetzten „ein tatkräftiger, mutiger, gewissenhafter und zugleich einfallsreicher Feldwebel“ seine Mission. „Um 22 Uhr gaben wir auf meinen Befehl das vereinbarte Signal“, erinnerte sich Oberleutnant Alexej Schukow: „Rote und grüne Leuchtgeschosse stiegen auf in Richtung der Wolga. Sekunden später eröffnete die Artillerie das Feuer auf das Haus, danach das ganze Bataillon auf die deutschen Stellungen.“

Nach knapp zwei Wochen Straßenkampf war es in Stalingrad üblich, dass sofort nach dem Beginn eines Angriffs die Artillerie entlang der Front das Feuer eröffnete, um das Ziel des Vorstoßes zu verschleiern. So auch bei Pawlows Attacke: „Sobald die ersten Schüsse des Artilleriebataillons abgegeben waren, donnerte und dröhnte es sofort entlang der ganzen Kampflinie der Innenstadt.“

Russia/Germany: A downed German fighter (Me 109) lies amid the ruins of Stalingrad. Huge air battles were waged over the city during the course of the siege, 1942-1943. (Photo by: Pictures from History/Universal Images Group via Getty Images)
Ein abgestürzter deutscher Jäger vom Typ Bf-109 in Stalingrad
Quelle: Pictures from History/Universal

Pawlow und seine drei Begleiter schafften es in den Keller des Hauses, fanden dort einige Zivilisten und besetzten die zerschossenen Obergeschosse. Auf deutsche Soldaten stießen sie nicht; das „Pawlow-Haus“ war gewissermaßen Niemandsland zwischen den Fronten gewesen. Nun machten sich die vier Rotarmisten daran, ihre Stellung zu verteidigen, bald unterstützt von etwa 20 weiteren Männern.

Alles, was danach kam, ist umstritten. Laut sowjetischer und heute russischer Darstellung „griffen deutsche Infanteristen das Haus demnach Tag für Tag und bisweilen auch mehrmals täglich an, häufig mit Panzerunterstützung“, schreibt MacGregor. So wird es in Briefen und Zeitzeugenberichten geschildert, die er ausgewertet hat.

In den militärischen Aufzeichnungen beider Seiten jedoch fand er keinen Hinweis auf die angebliche Belagerung: „Weder Paulus noch Tschuikow erwähnten sie in irgendwelchen Befehlen ihrer Stäbe und Gefechtsstände, und von Paulus wissen wir mit Sicherheit, dass das Haus auf keiner seiner Operationskarten verzeichnet war.“

Auf dem zerschossenen Dach des Hauses, das stimmt wohl wirklich, wurde ein Beobachtungsposten eingerichtet, der den Decknamen „Leuchtturm“ erhielt; daraus leitet MacGregor den Titel seines Buches ab. Ansonsten hält er viele Berichte rund um das „Pawlow-Haus“ für einen Mythos, urteilt aber zugleich: „Als solcher erzählte es eine Geschichte, die für die sowjetischen Truppen in der ganzen Stadt und ihren Kampf ums Überleben weitaus wichtiger war als der Vorposten als solcher.“

Warnschild am Stadtrand Stalingrads 2. Weltkrieg / Russlandfeldzug: Schlacht um Stalingrad August 1942 / Januar 1943. - Warnschild am westlichen Stadtrand Stalingrads nach der Besetzung durch deutsche Truppen. - Foto, Oktober 1942.
Warnschild am westlichen Stadtrand Stalingrads nach der Besetzung durch deutsche Truppen
Quelle: picture-alliance / akg-images

Genau wie Stalingrad selbst politisch und propagandistisch eine viel größere Bedeutung bekam, als es taktisch oder auch strategisch angemessen war. Als sich mit den stark sinkenden Temperaturen ab Ende Oktober 1942 und dem mangelnden Nachschub für die 6. Armee deren Situation verschlechterte, wäre ein Rückzug noch möglich gewesen. Doch am 19. November begann die Rote Armee ihre „Operation Uranus“, die weiträumige Einkesselung Stalingrads – und Hitler befahl: „Die zwischen Don und Wolga verbliebenen Einheiten der 6. Armee werden fortan als ,Festung Stalingrad’ bezeichnet.“

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Die Verteidigungsstellungen der Wehrmacht und der verbündeten Truppen umfassten ein Gebiet von etwa 56 mal 32 Kilometern westlich der Wolga. 94 sowjetische Divisionen hatten 14 Infanterie-, drei Panzer- und drei motorisierte Divisionen eingeschlossen, außerdem die Reste von drei rumänischen Divisionen und ein kroatisches Regiment – insgesamt fast 320.000 Mann, etwa 100 Panzer und 1800 Geschütze, 10.000 weitere Fahrzeuge und 23.000 Pferde.

Oberstleutnant Roske schilderte seiner Frau die Kämpfe mit den Rotarmisten in zwei Häusern der Innenstadt mit den Namen „Alex“und „Schule“ nahe dem „Pawlow-Haus“, die sich nun auch in die Höhe verlagerten: „Im ,Alex‘ kamen sie über eingestürzte Teile des sechsten Stocks; meine Männer blieben im Erdgeschoss und im Keller. In der ,Schule‘ war der Russe im obersten Stockwerk.“ Roske ließ „die in russischer Hand befindlichen Teile des Gebäudes in Stücke schießen. Die Stellen, wo die Russen über uns waren, ließ ich in die Luft sprengen.“

Doch das nutzte nichts mehr: Obwohl sich Roskes Männer und mehr als Hunderttausende andere deutsche Soldaten verzweifelt wehrten, zog die Rote Armee unter enormen Verlusten den Ring immer enger. Längst steckten sie in derselben Situation, in der die Verteidiger des „Pawlow-Hauses“ angeblich oder wirklich 58 Tage gesteckt hatten. Roske schrieb an seine Frau: „Nun, Bärbel, das ist es, was Kämpfen bedeutet.“

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