War der Termin so kurzfristig anberaumt, dass nicht einmal der Personalchef des Weißen Hauses vorab etwas wusste? Jedenfalls findet sich in den handschriftlichen Notizen von „Chief usher“ Howell C. Grim, für den 9. Oktober 1941 um 11.30 Uhr kein Eintrag über das Gespräch von US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit Vizepräsident Henry A. Wallace und dem wissenschaftlichen Chefberater Vannevar Bush. In deren späterer maschinenschriftlicher Fassung dagegen ist der Termin nachgetragen, ebenso wie in Roosevelts Tageskalender, in den Aufzeichnungen seiner Privatsekretärin und dem President’s Appointment Index, seinem offiziellen Besucherverzeichnis.
Zu klären ist diese Frage nicht mehr. Jedenfalls fand das Gespräch zwischen Roosevelt, Wallace und Bush offenbar nicht im Oval Office statt, denn Roosevelt kam erst um 11.40 Uhr in den Westflügel des Weißen Hauses. Die knapp zehn Minuten, die er an diesem Vormittag Bush und seinem Vertrauten Wallace widmete, waren folgenreich. Denn in dieser kurzen Zeit ging es um das bis dahin größte und teuerste Rüstungsvorhaben aller Zeiten.
Vannevar Bush stellte in Kürze den Bericht des britischen „Maud“-Komitees über die grundsätzliche Machbarkeit einer Atombombe vor, diskutierte die Kosten und die mutmaßliche Dauer, betonte gleichzeitig aber, dass ein Erfolg ungewiss sei. Er erhielt die Erlaubnis des Präsidenten, die Vorbereitungen gemeinsam mit Stellen der Army fortzusetzen, sollte aber vorerst nicht darüber hinausgehen. Roosevelt deutete an, einen Weg finden zu können, das Projekt zu finanzieren, und bat Bush, einen Brief zu verfassen, mit dem er die Spitze der britischen Regierung darauf ansprechen könne.
Damit wurde dieser Donnerstag zum eigentlichen Starttermin für das Manhattan Project. Geläufiger ist zwar ein anderes Datum, nämlich der 2. August 1939. Denn dieses Datum trug ein Brief an Roosevelt, den der Physik-Nobelpreisträger Albert Einstein unterzeichnete; der Entwurf stammte von seinem ungarischen Kollegen Leo Szilard.
Das Schreiben warnte „vor extrem starken Bomben eines neuen Typs“ und wählte ein drastisches Bild: „Eine einzelne derartige Bombe, die von einem Schiff transportiert in einem Hafen explodiert, könnte sehr wohl den ganzen Hafen zusammen mit einem Teil des umliegenden Territoriums zerstören.“ Wahrscheinlich war das eine Anspielung auf die Munitionskatastrophe von Halifax im Dezember 1917, mit der sich Roosevelt als damaliger Spitzenbeamter im Marineministerium beschäftigt hatte.
Hitler-Deutschland habe den Export von Uranoxid aus der besetzten Tschechoslowakei gestoppt, hieß es in dem Brief weiter. Das deute darauf hin, dass Wissenschaftler für das NS-Regime an solchen Waffen arbeiten könnten. Einsteins, also eigentlich Leo Szilards Brief, appellierte an die US-Regierung, ebenfalls entsprechende Forschungen voranzutreiben.
Dieses Schreiben löste zwar in den USA einige Voruntersuchungen aus; so berichtete der damit beauftragte Spitzenbeamte dem Präsidenten im November 1939 schriftlich, dass Uran „eine mögliche Quelle für Bomben weitaus größerer Zerstörungskraft darstellen könnte als alles, was derzeit bekannt ist“. Doch konkrete Schritte hin zu einer Entwicklung gab es vorerst nicht, was auch daran lag, dass die benötigte Menge an spaltbarem Material zu dieser Zeit noch auf mehrere Tonnen Uran 235 geschätzt wurde.
Doch im Juni 1940 bot die britische Regierung den USA an, die Ergebnisse ihrer eigenen streng geheimen Atomforschung, koordiniert vom „Maud“-Komitee, weiterzugeben – und dazu gehörte der theoretische Nachweis, dass zehn Kilogramm hoch angereichertes U-235 für eine Kettenreaktion reichen würden.
Doch diese einschneidende Einsicht erreichte die Kernphysiker in den USA nicht oder wurde als irrtümlich verworfen – die genauen Abläufe sind nicht zu rekonstruieren. Jedenfalls genügten bis zum Sommer 1941 dem praktisch denkenden Bush die Argumente nicht, dass sich die Uranforschung auszahlen würde, falls die Vereinigten Staaten in den Krieg ziehen müssten. Das änderte sich erst mit einem weiteren Bericht des „Maud“-Komitees von Juli 1941. Das ließ der Präsdidentenberater, inzwischen offiziell Vorsitzender des National Defense Research Committee und Direktor des Office of Scientific Research and Development (OSRD), von seinen Mitarbeitern auf Schlüssigkeit überprüfen – und ersuchte dann um einen Termin im Weißen Haus.
Dabei traf Roosevelt eine Entscheidung, wie sie für ihn typisch war – jedenfalls bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein: Der OSRD-Chef solle möglichst genau ermitteln lassen, ob und zu welchem Preis eine Atombombe gebaut werden kann, aber nicht ohne weitere Genehmigung des Präsidenten zu deren Produktion übergehen.
Bush beauftragte eine Gruppe von Wissenschaftlern um den Physik-Nobelpreisträger Arthur Compton, weitere Studien anzustellen – und diese Forscher kamen am 6. November 1941 zu dem Schluss, dass zwei bis maximal 100 Kilogramm U-235 genügen würden, um eine starke Kernspaltungsbombe zu bauen. So eine Menge spaltbaren Urans zu erzeugen, würde 50 bis 100 Millionen US-Dollar kosten.
Doch noch zögerte Vannevar Bush,was er dem Präsidenten empfehlen sollte. Erst nach drei Wochen leitete er die Empfehlung von Comptons Team an Roosevelt weiter. Doch der Präsident hatte anderes zu tun: Die Krise mit Japan spitzte sich Ende November 1941 bedenklich zu. Am 7. Dezember griffen kaiserliche Trägerflugzeuge in einem Überraschungsschlag Pearl Harbor an und zerstörten einen Großteil der US-Pazifikflotte. Nun befanden sich die Vereinigten Staaten im Krieg und Roosevelt in noch größerem Stress als je zuvor.
So kam er erst am 19. Januar 1942 dazu, Vannevar Bushs Brief vom 27. November 1941 zu beantworten, nun als Oberbefehlshaber der Nation im Krieg. Roosevelts handschriftliche Begleitnotiz an den OSRD-Chef war an Bündigkeit kaum zu unterbieten: „OK – zurückgegeben. Ich denke, Sie sollten diese Notiz am besten in Ihrem eigenen Safe aufbewahren. FDR“.
Die Gesamtkosten für das Manhattan-Project sollten übrigens zwei Milliarden Dollar betragen, in heutiger Kaufkraft mehr als 26 Milliarden Dollar.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Oktober 2021 veröffentlicht.
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